Géza Ákos Molnár 17. Dezember 2022
stelle ich eine Geschichte zu lesen online, die mich sprachlich und inhaltlich sehr beeindruckt hat.
Zunächst ein paar Vorbemerkungen dann die Geschichte.
Sie hat sich tatsächlich zugetragen. Überschrieben hat sie der Autor mit
Sie ist ein Ausschnitt aus der Autobiographie eines Mannes aus Dresden. Sachsen und Thüringen sind die Länder, wo sich Wilhelm von Kügelgen (1802 Sankt Petersburg – 1867 Ballenstedt) die meiste Zeit seines Lebens aufgehalten hat.
Das Kügelgenhaus in Dresden zeugt heute noch vom Wirken dieses christusgläubigen Malers und seines Vaters.
Die Geschichte ist keine klassische Weihnachtsgeschichte. Sie spiegelt aber auf schöne, geradezu weihnachtliche Weise wider, wie der Glaube an „das Christkind“, später: an Christus, Menschen geholfen hat, ihr Leben auch in großer Not zuversichtlich zu meistern und wie er ihnen geholfen hat, einander zu helfen und Hilfe ohne Scham anzunehmen.
So alt diese wahre Geschichte ist, so berührend ist sie heute und gerade heute. Inwiefern berührend? Die Antwort will ich Ihnen nicht geben. Lesen Sie sie ganz unvoreingenommen und unbeeinflußt. Und sorgsam. Wer liest, sieht dann schon.
Wenn Zeit und Muße da sind, ist sie nach gutem laut lesenden Einüben (nur dann!) auch zum Vorlesen in kluger Runde geeignet.
Information zum Autor und zum Buch finden Sie über weiterführende Hinweise von Herrn Dr. Google und Frau Prof. Wikipedia.
Hier die Geschichte vom Krüppel von Hohenstein:
– – – Mit jener Episode war mein Urlaub erschöpft, und ich rüstete zum Rückzug. Aber nicht wieder über Leipzig wollte ich gehen, sondern durchs Erzgebirge, und nicht etwa, weil diese Gegend ein besonderes Interesse für mich gehabt hätte, sondern nur um den Versuch zu machen, dort einen Mann aufzufinden, von dem neuerdings bei uns sehr viel die Rede gewesen war.
An den Loschwitzer Sonntagen hatte die Mutter uns ein Buch von Schubert vorgelesen, das unter dem Titel „Altes und Neues“ allerlei erbauliche Züge aus dem Glaubensleben gottesfürchtiger Menschen mitteilte. Darin geschieht denn auch eines frommen Mannes aus dem Volke Erwähnung, seines Zeichens ein Leinweber, mit Namen Steffan, den Schubert persönlich kannte, da er in seiner Vaterstadt Hohenstein lebte.
Dieser Mensch war alt und arm und krank. Er hatte somit alles, was man gewöhnlich am meisten scheut, und zwar in reichem Maße, denn sein Alter war beträchtlich, seine Armut bettelarm und seine Krankheit unheilbar. Nichtsdestoweniger war er ein glückseliger Mensch, und daß er das in Wahrheit sein konnte, machte ihn nicht weniger interessant, weil es ein Beleg für die beseligende Kraft des Christentums zu sein schien, das er bekannte.
Steffan hatte sich nach Schuberts Relation bis in ein vorgerücktes Alter als Junggesell verhalten – da starb sein Jugendfreund, ein anderer Weber und verheirateter Mann, und nahm ihm sterbend das Versprechen ab, für seine Hinterbliebenen zu sorgen.
Um dem nachzukommen, heiratete Steffan die Witwe, deren Aussteuer nur in zwei kleinen Mädchen bestand, von denen das jüngste taubstumm war. Aber Steffan baute auf die Hilfe seines Gottes, die er denn auch bald, und zwar in ganz außerordentlicher Weise, nötig hatte und erfahren sollte.
Der sonst kerngesunde Mann erkrankte, ward unausgesetzt von empfindlichen Schmerzen gepeinigt und endlich dergestalt gelähmt, daß er weder stehen noch gehen und daher das Bett nicht mehr verlassen konnte.
Da war’s denn aus mit der Weberei, und auch die Frau konnte nichts mehr verdienen, da sie weder den Mann noch die taubstumme Tochter aus den Augen lassen durfte. Die Familie schien dem Verderben preisgegeben.
Nun aber trat die wunderbarste Hilfe ein, von welcher Schubert in seinem Buche eine ganze Reihe auffallender Beispiele herzählt. Obgleich dem armen Kranken als Betriebskapital nichts anderes als die vierte Bitte [im Vater Unser: unser tägliches Brot gib uns heute, Anm.d.Zitierenden] geblieben war, so reichte diese doch zu aller Notdurft aus, denn es ward ihm stets zu rechter Zeit, und zwar meist von unbekannten Händen, das Nötigste ins Haus getragen. Es war zwar nur das Nötigste, aber ein Mehreres hatte Steffan auch früher nicht gekannt, und jetzt war er fast überwältigt von der Fülle des Guten, das ihm so unverdient von allen Seiten zufloß.
Von diesem Manne, wie daß ich ihn aufzusuchen dachte, hatte ich in Hummelshayn gesprochen, und da ich nun Abschied nahm, steckte mir die Tante noch ein Sümmchen Geld zu „für den Leinweber“, wenn ich’s nicht selber brauchte. Das war eine Freude! Denn ich war allerdings so abgebrannt, daß ich keinen Groschen missen konnte. Nun brauchte ich nicht mit leeren Händen zu erscheinen.
Nach mehreren heißen Tagemärschen langte ich eines Abends in Hohenstein an. Ob mein Heiliger wohl noch leben würde, dachte ich, und ob Schubert auch den rechten Namen oder vielleicht aus Schonung nur den Taufnamen angegeben habe. Da stand gleich bei den ersten Häusern eine Gruppe Nachbarn, die ich nach Steffan fragen konnte; aber dieses Namens gab es mehrere. Der meinige, sagte ich, sei sehr arm, und das waren sie ebenfalls alle. Da ich endlich den Gesuchten als alt und an den Beinen gelähmt bezeichnete, bemerkte ein herzutretender Arbeiter: das passe schon auf einen, den er kenne, einen alten Betbruder; aber bei der Art würde ich wohl nichts zu suchen haben. Ich aber suchte gerade bei der Art etwas, war hocherfreut und ließ mir die Wohnung des Betbruders beschreiben, die, am andern Ende des Bergstädtchens gelegen, nicht leicht zu verfehlen war.
Vor der Türe des etwas windschiefen Hauses fand ich eine Frau, die kleingemachtes Holz eintrug und mich auf meine Frage nach dem Leinweber Steffan etwas verwundert die Treppe hinaufwies.
Hier trat ich in ein ärmliches Zimmer, dessen wesentlichstes Ameublement in ein paar Betten bestand. In dem einen lag ein auffallend schöner alter Mann, der sich mittels eines um das Fußende geschlungenen Seils, das er wie einen Zügel in der Hand hatte, aufrechthielt, und um ihn standen eine Menge Kinder, die er zu unterrichten schien. Er sah mich fragend an.
Ich sagte, ich hätte einen Auftrag an den Webermeister Steffan. „So heiße ich“, erwiderte er; „aber wenn’s nicht allzu eilig ist, so verzeihen Sie ein wenig, meine Schule wird gleich aus sein.“
So ist er also mittlerweile Schulmeister geworden, dachte ich – wenn’s nur der rechte Steffan ist! Ich setzte mich nun still in eine Ecke, und jener fuhr in seiner Sache fort. Er fragte den Kindern die Gebote ab und sprach zwischendurch zu ihnen so einfach und mit so rührend warmer Liebe, daß es auch mir zu Herzen ging. Ich konnte nicht länger zweifeln, ob ich in diesem Stübchen recht sei.
Inzwischen wurden die Kleinen bald entlassen, und auf den Wink des Alten trat ich ehrfurchtsvoll ans Bett, auf das er sich ermüdet zurückgelassen hatte. Am liebsten hätte ich gleich damit begonnen, mir seinen Segen auszubitten, und war ganz verlegen, ihm statt dessen ein klägliches Almosen einhändigen zu sollen.
„Was haben Sie mir denn zu sagen?“ redete Steffan mich jetzt an, indem er mir freundlich die Hand reichte. Ich sagte, eine Dame aus Thüringen, woher ich käme, hätte mir etwas für ihn mitgegeben. Ob ich ihm damit recht käme, wisse ich nicht, aber abgeben müsse ich’s, und damit legte ich das Geld der Tante auf die Bettdecke. Es waren drei harte Taler.
Steffan erwiderte nichts. Er faltete die Hände, und eine Träne nach der andern ging aus seinen Augen. Als aber nun seine Frau eintrat, dieselbe, die mich unten zurechtgewiesen, sagte er mit leiser Stimme: „Sieh doch da, die ganze Miete!“
Ich konnte es nicht hindern, daß jene mir die Hände küßte, obgleich ich nicht der Geber war; sie löste sich fast auf in Dankbarkeit, und ich erfuhr nun, daß schon am nächsten Tage die Exekution wegen rückständiger Miete erfolgen sollte, die von mir überbrachte Summe die Schuld aber bei Heller und Pfennig decke. Nicht mehr und nicht weniger war es, es hatten gerade drei Taler gefehlt, wegen deren Geringfügigkeit ich mich dem ehrwürdigen Manne gegenüber geschämt hatte. Nun hatten sie dennoch ausgereicht, ihn vor Plünderung zu schützen.
Ich mußte jetzt berichten, wie es zugegangen, daß meine Tante von der Not eines so weit entfernten kleinen Mannes Kenntnis gehabt, und sprach natürlich von Schuberts Buche. Steffan richtete sich verwundert auf. Er konnte sich nicht gleich darein finden, daß von ihm, dem Hohensteiner Weber, etwas in Büchern stehe, ebensowenig als Schubert es sich gedacht haben mochte, daß jener etwas davon erfahren würde. Indessen kannte Steffan die Eigentümlichkeit seines alten Freundes und sagte endlich mit besonderem Tone: „Der liebe, gute Schubert! Aber unser Vater im Himmel hat wunderliche Kinder und wunderbare Wege!“
Letzteres wußte Steffan nicht erst seit heute abend; er hatte viel erfahren und sprach gerne davon, auf wie merkwürdige Art ihm oft die wunderbare Unterstützung zugekommen, und immer ohne sein eigenes Zutun, denn er hatte nie gebettelt, außer an jener Schwelle, an welcher alle Christen, große und kleine, täglich zu betteln angewiesen sind.
„Noch heute!“ sagte er, „wer konnte wissen, daß wir den letzten Span verbrannt? – da fährt ein fremder Fuhrmann vor und ladet ein ganzes Fuder kleingespaltenes Holz ab. Daß meine Frau beteuert, wir hätten nichts bestellt und könnten nichts bezahlen, ist in den Wind gesprochen. ‚Wenn’s bei dem lahmen Steffan ist, so ist’s schon recht!‘ und damit fährt mein Fuhrmann ab und will keinen Dank mitnehmen. Dann aber kommen Sie, mein junger Freund, vom Thüringer Walde her, um unsere Miete zu bezahlen! Und so ist’s nun die ganzen zehn Jahre her gegangen, seit ich mich nicht vom Bette rühre. Wer bin ich, Herr, daß du meiner so gedenkst! Du hast es nie am Öl und Mehle fehlen lassen, obgleich ich müßig liege wie ein Brachfeld.“
Aber die Schule, dachte ich, die muß doch ihre Früchte tragen. Als ich ihn indessen hieran erinnerte, sagte er, dafür habe er auch zu danken, daß die Kleinen gerne zu ihm kämen, arme Fabrikkinder, die den Tag über für ihren Unterhalt arbeiten müßten und die Schule nicht besuchen könnten. Da kämen denn ihrer einige am Feierabend zu ihm, und er unterweise sie im Lesen, Schreiben und Katechismus. Das sei eine Freude und eine Erquickung.
So wurde denn dieser Ärmste noch der Wohltäter vieler armen Kinder, die ohne ihn verwildert wären. Vielleicht mußte er gerade darum leibllich krank sein, damit er den Samen geistiger Gesundheit in die Seelen dieser Kleinen streue, welche somit möglicherweise noch einen Vorzug vor denen hatten, welche die Ortsschule besuchten, denn dort wurde, wenigstens nach Steffans Ansicht, kein Christentum gelehrt, vielmehr nur Anweisung gegeben, nach dem Vorbild edelmütiger Tiere, wie Löwen, Elefanten und dergleichen, recht zu tun und nichts zu fürchten. – – –
Quelle: Wilhelm von Kügelgen, Jugenderinnerungen eines alten Mannes, ed. Michael Holzinger, Berliner Ausgabe 2018, 4.Auflage, S. 400 – 404
Das Buch hat Wilhelm von Kügelgen in den Jahren 1855 bis 1865 geschrieben. Erstdruck: 1870. Sie haben es an der schönen alten deutschen Sprache bemerkt.
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Wien, 17.12.2022
Schlagwörter: Weihnachten, Lesen, vorlesen, Jesus Christus, Wilhelm von Kügelgen, Dresden, Hohenstein.
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