Géza Ákos Molnár 17. Mai 2022
Es ist schon eine Kunst, das Erzählen einer Geschichte. Die Neudeutschen sagen storytelling dazu.
Beim Zeitunglesen ist nebenbei das Radio gelaufen. Es war eine Sendung über Einsamkeit. Ich habe nicht so genau hingehört. Bis der Psychiater von einem Ehepaar zu erzählen begonnen hat. Da mußte ich glatt die Zeitung weglegen. Die Geschichte wollte ich jetzt hören.
Hier ist sie:
„Ich habe vergleichsweise spät geheiratet, weil ich vielleicht auch viel Ehetherapie gemacht habe; immer die negativen Aspekte gesehen habe.
Und in der Phase, wo ich meine Frau noch nicht kannte, bin ich in Wien gewesen und beobachtete am Nachbartisch in einem Schnellimbiss ein altes Ehepaar.
Und die saßen sich gegenüber, guckten sich nicht an und löffelten so ganz langsam so eine Fischsuppe in sich rein. Reden kein Wort miteinander.
Und ich hab mir das so angeguckt und überlegt. Ja, so kann es gehen. Man lebt Jahrzehnte miteinander, man hat sich nichts mehr zu sagen, und das Ganze endet in einem Schnellimbiss in Wien.
Der Mann stand auf, ging zur Toilette. Die Frau schaut gar nicht auf, die löffelte weiter ihre Fischsuppe. Und dann kam der Mann von der Toilette zurück, ging an seiner Frau vorbei und streicht ihr ganz zärtlich über den Kopf. Sie schaute gar nicht auf, weil sie genau wusste, wer das war.
Und da hab ich mich so geschämt für meine Gedanken, weil es wahrscheinlich eines der glücklichsten Ehepaare gewesen war, die ich je erlebt habe.“
Für die Rhetorik ein paar Schlußfolgerungen:
1/ Diese Geschichte beweist es. Selbst bei kürzester Redezeit kann man etwas sagen, das sinnvoll ist uns essentiell und das die Seelen berührt. Diese Geschichte hat cielleicht 90 Sekunden gedauert. Wenn Sie für eine Rede nur drei, vier Minuten Zeit bekommen – eine kleine Geschichte dieser Art und Sie sind gerettet, und Ihre Hörer sind froh. Also, keine Angst vor kurzer Redezeit!
2/ Die Geschichte ist schlicht und doch zugleich so spannend. 3 Personen: der ledige Psychotherapeut und das alte Ehepaar. Wir ahnen bald, worauf diese Geschichte hinauslaufen wird, schließlich geht es um Einsamkeit. Sie wird uns wohl zeigen, daß man selbst dann sehr einsam sein kann, wenn man gar nicht alleine ist, sondern verheiratet.
Zunächst bestätigt der Erzähler unsere Vorahnung sogar, denn er resümiert, „das Ganze endet in einem Schnellimbiss in Wien.“ Die Geschichte könnte jetzt aus sein, es war eine traurige Geschichte. Bei dem Thema erwartbar. C’est la vie!
Und jetzt die rhetorische Kunst: Das Unerwartete geschieht. Die Geschichte geht weiter, noch dazu in eine ganz andere Richtung als gedacht.
a/ Erste Überraschung: der Ehemann geht auf’s Klo. Das ist so ein Satz, von dem ich mir sicher bin, daß er alle Hörer neugierig gemacht hat. Wie? Was? Was kommt jetzt?
b/ Zweite Überraschung: zurück zum Tisch; der alte Mann streichelt seine alte Frau.
c/ Auflösung und happy end: der Schein hatte ihn getrogen; der ledige Mann resümiert ganz neu. In Wirklichkeit hat er das glücklichste Ehepaar seines Lebens getroffen.
d/ Und AUS. Rhetorisch wichtig, daß man Schluß macht, wenn man zum Schluß gekommen ist. Lütz macht das perfekt. Jetzt läßt er die Geschichte los. Er läßt sie wirken.
Was für eine Geschichte! Leider konnten Sie sie jetzt nur lesen. Aber stellen Sie sich vor, daß das einer auch gut vorträgt, noch dazu jemand, von dem Sie wissen, es ist ein alter, weiser Arzt und Fachmann für die Seele.
Kleiner Tipp: Lesen Sie diese Geschichte einmal laut und versuchen Sie das alles gut zu betonen und die Pausen richtig zu setzen und das gute Tempo zu finden. Als würden Sie es jemandem vorlesen. Sie werden die Geschichte besser erleben. Vielleicht lesen Sie sie auch wirklich jemandem vor?
Wer gut vorbereitet, der gewinnt!
3/ Bereiten Sie Ihre Geschichte unbedingt gut vor. Wegen der Redezeit immer unter voller Konzentration auf das Wesentliche – und auch wegen des Spannungsbogens.
Eine kurze Einleitung, eine kleine Begebenheit, eine Wende in der Handlung, eine Pointe bzw. ein Höhepunkt. Wie Sie sehen, geht das auch mit so schlichten Beobachtungen wie die in einem ganz gewöhnlichen Fischlokal mitten in Wien.
Hinweis: Bleiben Sie beim Wesentlichen. Vom Erzähler erfahren wir sonst nichts: Warum war Prof. Lütz in Wien? Wie sahen die beiden aus? In welchem Bezirk und in welchem Lokal genau war das? Wie war der Tisch gedeckt? Wie war das Service dort? Alles ohne Relevanz für diese Botschaft und mit dieser Redezeit.
4/ Menschen, die Reden halten und unterrichten und viel in Talkshows sind, empfehle ich sehr, im grauen Alltag bewußt zu beobachten, was um sie herum geschieht.
Sie ahnen gar nicht, wie viele Geschichten Sie sammeln, wenn Sie Ihre Augen und Ohren offenhalten und einen Blick für die großen Pointen in ganz kleinen Begebenheiten entwickelt haben werden.
5/ Und wenn Sie eine lange Rede halten? Zehn oder 20 Minuten oder gar mehr? Umso wichtiger, kleine Geschichten einzustreuen!
Aus zwei Gründen: Erstens sind die Hörer froh; Sie lockern alles auf, Sie machen es unterhaltsamer und leichter verstehbar; und Sie helfen, sich etwas zu merken – jede Geschichte ist ein Gedächtnisanker!
Zweitens überzeugen Sie mit der Geschichte eher. Denn niemand läßt sich alles sagen. Aber jeder Mensch läßt sich alles erzählen.
Übrigens: Ich bin Redenschreiber. Wenn ich Sie beim Vorbereiten Ihrer nächsten Rede unterstützen kann, tue ich das gerne! Schreiben Sie mir einfach.
PS: Wenn wir schon beim Empfehlen sind. Ich empfehle die Bücher von Manfred Lütz, sie sind lehrreich, spannend und humorvoll. Ein Beispiel: Neue Irre – Wir behandeln die Falschen: Eine heitere Seelenkunde.
Ich danke der Redaktion der Sendung Lebenszeichen bei wdr3.de für die Erlaubnis, diese Geschichte zu zitieren. Um der leichteren Lesbarkeit willen habe ich das Originaltranskript der Redaktion orthographisch und in bezug auf die Satzzeichen optimiert wiedergegeben (dort S.17).
Schlagwörter: Pointe, storytelling, erzählen, Geschichten, Spannung, Manfred Lütz, Redezeit.
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