Fades Konzept – fantastische Rede? Ja, das geht! 

Géza Ákos Molnár 11. Jänner 2024


Heute zeige ich Ihnen zwei Reden in einem Auftritt. Das Ganze dauert rund sechs Minuten. Es sprechen ein Vater und sein Sohn. Beide heißen Wolfgang Grupp. 

Der Anlaß: Vater Grupp übergibt die Geschäftsführung seiner Firma an seinen Sohn. Fortan wird Wolfgang Grupp junior die Firma Trigema leiten.

Wichtig zu wissen: Vater Grupp ist über 80 Jahre alt und hat sein Unternehmen 54 Jahre lang geführt. Dem Vernehmen nach hat er das immer mit viel Herzblut, unglaublich fleißig und fürsorglich und nach innen und außen mit starker persönlicher Autorität getan. 

Herrn Grupp junior kennen wir noch nicht. Wir Außenstehende erleben ihn jetzt das erste Mal.

Auch Reden kann man obduzieren

Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, eine Rede zu transkribieren, wenn ich sie analysieren, befunden oder begutachten will. Ich begnüge mich nicht mit dem Hören der Rede und mit dem Beobachten des Redners allein. 

Ich will die verschriftlichte Version vor mir liegen haben, nur so kann ich eine bereits gehaltene Rede sezieren und obduzieren. Ich will in die Struktur reinschauen und Details der Rede entdecken können, die ich beim Hören allein vielleicht überhört, übersehen oder anders gewichtet hätte.

Die große Verblüffung

Deshalb habe ich auch die Abschiedsrede Grupps transkribiert. Ich war dabei richtiggehend verblüfft. Denn der schriftliche Text ist, brutal auf den Punkt gebracht, langweilig, fad. 

Hätte mir jemand nur das Transkript gezeigt und mich nach meiner rhetorischen Beurteilung gefragt, ich hätte mich prima vista tatsächlich gefragt: Ist das alles? Bei solch einem firmenhistorischen Anlaß? Vor allen Mitarbeitern? 

Keine einzige Geschichte? Keine einzige Kennzahl? Kein einziges Detail zur Geschichte des Unternehmens? 

Nur „Danke“ sagen? Nur die Übergabe ankündigen? Nur den Sohn ein paar Sätze sagen lassen? 

Außerdem, und das mag der Profi-Redenschreiber gar nicht: Da sind zwei Sätze dabei, die haben so viele Gliedsätze, daß einem schwindlig wird. Ein paar kurze Sätze sind immer viel besser als ein so überlanger, komplizierter. Naja …

Die große Überraschung

Die inhaltliche und die formale Schlichtheit des schriftlichen Redetextes steht in diesem Fall in geradezu diametralem Kontrast zur hohen Emotionalität der Rede, wie sie Herr Grupp senior – und auf seine natürlich viel jüngere Art Herr Grupp junior – tatsächlich gehalten hat. 

Bitte beobachten Sie diesen Kontrast. Ja, er hat sich ans Konzept gehalten. Aber wie?!?! Sogar die zwei Schachtelsätze hat er so gut vorgetragen, daß ihn alle verstanden haben. Was war das Geheimnis der Wirkung seiner Rede? Das war Herrn Grupps Seele. Seine Empfindungen. Die Stimme, wie sie vibriert hat, manchmal gestockt. Ich muß es gar nicht im Detail beschreiben, Sie werden es spüren.

Vorher lesen, dann sehen! 

Aber, werte Leser! Heute schlage ich vor, Sie machen die Probe auf’s Exempel und lesen zuerst das Transkript und schauen sich das Video erst nachher an.

Das Transkript ist hier verlinkt. Bitte klicken Sie drauf.

Auf die rhetorischen Vorentscheidungen kommt es an!

Welche rhetorische Entscheidungen hat Herr Grupp senior getroffen? Wenn auch rhetorisch fundiert, spekuliere ich hier freilich nur:

1/ Er hat sich und die Redesituation richtig eingeschätzt: Die Gefühle werden mich aber sowas von übermannen, wenn ich das nicht perfekt schriftlich vorbereite. Frei reden kommt überhaupt nicht in Frage. Ich werde den Text vorlesen

Anmerkung: Wer Herrn Grupp auf youtube sucht, findet ausgezeichnete, spannende Reden, wo er passagenlang frei redet und mitreißend auftritt. 

  • Der Erfahrene weiß: Manchmal ist Vorlesen besser als frei zu reden.

2/ Geschichten aus der Firmengeschichte erzählen? Detto – viel zu gefühlsschwanger für mich. Ich lasse das weg. 

  • Der Erfahrene weiß: Ganz selten ist es besser, nichts zu erzählen. Lieber nüchtern wirken …  

3/ Ich bleibe diszipliniert sachlich. Ich werde sogar die Änderung der Firmenbezeichnung von e.K. in KG vorlesen. Fast wie ein Notar. 

  • Der Erfahrene weiß: Ausnahmsweise hilft Formalismus oder das Protokoll dem Redner und den Hörern, weil es das Überschwappen von Gefühlen verhindert.

4/ Ich beschränke mich auf nur drei Dinge der emotionalen Art, und die halte ich kurz und knapp – nur je eins, zwei Sätze dazu: 

a) Ich danke allen. 
b) Ich werbe um Vertrauen aller in meinen Sohn und die Familie.
c) Ich vergewissere alle: Die Unternehmensphilosophie werden wir nahtlos weiterleben.

  • Der Erfahrene weiß: Spricht eine geachtete Bezugsperson, genügt das, um die Herzen zu berühren. Weniger ist hier mehr. Trotzdem:

5/ Ich brauche dann eine Pause. Mein Sohn wird ein paar Worte sagen. Er wird es wahrscheinlich genauso kurz und sachlich und zugleich eh herzlich machen wie ich.

6/ Sechs Minuten sind genug. Daher nur mehr: „Frohe Weihnachten!“

Wolfgang Grupp sen. & jun. sind am Wort

Werte Leser, erst jetzt schauen Sie sich das Ganze auch an! Da steht er am Pult, der Herr Grupp, wie man ihn kennt: in feinem Zwirn, der Maßanzug und die Krawatte sitzen perfekt, die Rede beginnt.

Die ganze Situation und vor allem dieser alte und topfitte Mann, der Patriarch im besten klassischen Sinne des Wortes – er hält die Rede und – das ist es, was wir dann echt spüren können – der perfekt vorbereitete Redetext hält ihn. 

An seiner Stimme, die manchmal bricht, merken wir: pure Emotion! Aber ganz ohne Drama! Wie richtig waren seine rhetorischen Vorentscheidungen: perfekte Lagebeurteilung, perfekter Entschluß, perfekte Durchführung! 

Ich gratuliere respektvoll. 

PS: In Rhetorikseminaren lehre ich selbstverständlich die immer einzuhaltenden Regeln der wirkungsstarken Rede. 

Was wir aber immer im Auge zu behalten haben, ist: 

Selten gibt es doch Situationen, wo die Rede nur dann gut ist, wenn einzelne Regeln der Rhetorik bewußt nicht eingehalten werden. Der Erfahrene weiß, diese Situationen zu erkennen. 

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