Géza Ákos Molnár 28. Jänner 2015
Dichtersätze sind oft dichte Sätze. Dichter dürfen sich den Luxus dichter Sätze leisten. Dichter schreiben ja zum Lesen. Redenschreiber schreiben zum Hören.
Lese ich ein Buch, habe ich einen Vorteil, den ich als Hörer einer Rede nicht habe. Wenn ich lese, kann ich einen dichten Dichtersatz zweimal oder dreimal lesen, bis ich ihn ganz gesehen und erfasst und bis ich ihn wirklich verstanden und begriffen habe.
Dann wirkt er auf mich.
Schreibe ich eine Rede, darf ich keine dichten Sätze schreiben. Erstens, weil sich dann der Redner zu schwer tut, das schön zu reden. Und zweitens, weil es dann der Hörer viel zu schwer hat, solch dichte Sätze zu verstehen.
Das darf bei einer Rede nicht sein.
Aber im Buch, das zum Lesen geschrieben ist, darf das sein. Ich zeige Ihnen heute ein neues Beispiel: ein paar dichte Sätze aus dem soeben erschienenen Buch „Unterwerfung“.
Ich zitiere Michel Houellebecq:
„Die Musik kann im selben Maße wie die Literatur erschüttern, eine gefühlsmäßige Umkehr, Traurigkeit oder absolute Ekstase bewirken; die Malerei kann im selben Maße wie die Literatur verzücken, einen neuen Blick auf die Welt eröffnen.
Aber allein die Literatur vermittelt uns das Gefühl von Verbundenheit mit einem andern menschlichen Geist, mit allem, was diesen Geist ausmacht, mit seinen Schwächen und seiner Größe, seinen Grenzen, seinen Engstirnigkeiten, seinen fixen Ideen, seinen Überzeugungen; mit allem, was ihn berührt, interessiert, erregt oder abstößt. …
Natürlich sind, wenn es um Literatur geht, die Schönheit des Stils, die Musikalität der Sätze von Wichtigkeit. Die Tiefe und Originalität der Gedanken des Autors sind nicht unwesentlich;
aber ein Autor ist zuvorderst ein Mensch, der in seinen Büchern gegenwärtig ist; ob er gut schreibt oder schlecht, ist dabei zweitrangig, die Hauptsache ist, dass er schreibt und wirklich in seinen Büchern präsent ist.“
Warum zeige ich Ihnen diese dichten Sätze Houellebecqs?
Zunächst, weil sie schlicht schön sind.
Sodann, weil sie schlicht wahr sind.
Schließlich, weil sie das Geheimnis von Dichtung offenbaren.
Aber ich füge hinzu: Sie offenbaren uns auch das Geheimnis der Redekunst.Was ist das Geheimnis beider?
Es ist die Gegenwart. Die Präsenz. Des Dichters. Des Redners.
Des Dichters in der Literatur, die er schreibt, und die Gegenwart des Redners in der Rede, die er hält.
Machen Sie einmal folgendes:
Tauschen Sie in den Dichtersätzen „Literatur“ mit „Rede“ und „Autor“ mit „Redner“ und „Bücher“ mit „Reden“ und lesen Sie diese Sätze so noch einmal.
…
Wie oft nagt der Selbstzweifel an uns Rednern?
Ob ich wohl gut genug rede? Rede ich nicht viel zu schlecht? Wäre es nicht besser zu schweigen oder jemand anders reden zu lassen?
Wenn Sie zweifeln vor dem Reden, dann lesen Sie den letzten Satz von Houellebecq so noch einmal:
„…ob er gut redet oder schlecht, ist dabei zweitrangig, die Hauptsache ist, dass er redet und wirklich in seinen Reden präsent ist.“
Wer meine Blogbeiträge liest und wer meine Rhetoriktrainings kennt, der weiß, dass ich allerhöchsten Wert auf das gute und schöne Reden lege, weil das gut ist für die Wirkung der Rede und weil das eine Sache des Respekts ist vor den Hörern.
Houellebeqc: „Natürlich sind, wenn es um Literatur [Reden] geht, die Schönheit des Stils, die Musikalität der Sätze von Wichtigkeit.“
Aber: Überzeugend redet derjenige, der in seinen Reden ganz gegenwärtig ist „mit seinem menschlichen Geist, mit allem, was diesen Geist ausmacht, mit seinen Schwächen und seiner Größe, seinen Grenzen, seinen Engstirnigkeiten, seinen fixen Ideen, seinen Überzeugungen; mit allem, was ihn berührt, interessiert, erregt oder abstößt.“
Reden Sie so! Dann ist alles gut. Ich wünsche Ihnen guten Mut dazu.
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