Géza Ákos Molnár 14. Mai 2022
Es gibt ein paar Wörter, die man rhetorisch ganz leicht mißbrauchen kann. Sie
klingen nämlich unglaublich gut, wichtig und sinnvoll. Niemand widerspricht
ihnen – nicht öffentlich. Die wenigen kritischen Hörer machen sie mundtot.
Oder kennen Sie jemanden, der gegen „Gerechtigkeit“ ist? Oder gegen
„Solidarität“? Oder gegen das „Recht auf …“? Oder gegen „die Wissenschaft“?
Es ist ein beliebter rhetorischer Trick, sich in einer Rede vor versammelter Menge
auf eins dieser soeben genannten Wörter zu berufen, um sein Ding auf jeden Fall
durchzuziehen. Wie funktioniert das?
Wie geht der Trick?
Zuerst nickt ein jeder, wenn er hört: „das ist gerecht“, „so sind wir solidarisch“,
„wir hören auf die Wissenschaft“. Klar ist man dafür. Und schon wird die Gruppe
der einzelnen Hörer gruppendynamisch zu einer einheitlichen Gruppe oder zu
einer einheitlilchen Masse geformt (Stichwort: Massenpychologie).
Dann ist man schon „dafür“ (was der Mann, heutzutage meistens eine schrille
Frau, vorne sagt) und denkt im Detail nicht mehr so kritisch mit. Die
Forderungen, Maßnahmen, Aktionspläne fließen dann widerstandslos durch alle
Ganglien im Gehirn. Bei gutem Vortrag geht das freilich mit intensiven
emotionalen Effekten einher. Und schon sind wir Feuer und Flamme „dafür“.
Sogar für andere frieren tun wir dann gerne.
Aktueller Status Gehirn: linke Gehirnhälfte deaktiviert, rechte Gehirnhälfte noch
aktiver als sowieso.
Und wenn es noch immer ein paar kritische Geister mit gesundem Hausverstand
in der Runde gibt, dann haben sie es unglaublich schwer, Widerspruch einzulegen
– denn die Hürde des magischen Wortes „gerecht“, „solidarisch“ oder
„wissenschaftlich“ will einmal im Angesicht der schon gebildeten Einheitsmeinung
überwunden werden.
Status kritischer Geist: Die, deren linke Gehirnhäfte noch aktiv ist, sind
zumindest mundgetötet, also mundtot.
Jetzt widerspricht niemand mehr. Niemand stellt kritische Fragen. Das macht er
dann höchstens später an der Bar oder im Internet. Sonst liefe er nämlich
Gefahr, in ein falsches Eck gestellt zu werden, als wäre er ungerecht,
unsolidarisch oder eben so arrogant, daß er sich für gescheiter hält als „die
Wissenschaft.“ Wer will schon „Egoist“ sein oder „Ausbeuter“ oder „Gefährder“
oder „Verschwörungstheoretiker“? Nicht einmal „Schwurbler“ steht einem gut.
Die Magie von „die Wissenschaft“
Ich schreibe heute exemplarisch etwas über „die Wissenschaft“ und stelle mein
rhetorisches Motiv dafür voran:
Willst Du ein redlicher Redner sein, dann gebrauche das Wort „Wissenschaft“ sorgfältig! Lieber Hörer, wenn Du hörst, daß sich ein Redner auf „die Wissenschaft“ beruft, höre umso sorgfältiger zu! Und Ihr beide, Redner und Hörer, wisset, was Wissenschaft wirklich ist – und was nicht!
Der rhetorische Trick mit dem Wort „die Wissenschaft“ funktioniert aus einem ganz einfachen Grund: Die meisten Menschen wissen nicht, was Wissenschaft ist, was Wissenschafter wirklich wissen und daß sie vor allem – logischerweise – vieles nicht wissen.
Bei „die Wissenschaft“ denken die meisten Hörer, „die“ bedeute „alle“, als wären alle Wissenschafter eins in dieser Sache. Sie glauben, die Sache sei nicht mehr hinterfragbar, weil unbestritten bewiesen. Daß dem allen nicht so ist, das verschweigen unsere rhetorischen Blender, meistens Politiker, NGO-ler, Journalisten, Interessenvertreter, Konzernsprecher, gerne. Deshalb hat „die Wissenschaft“ etwas Magisches an sich.
Was suggeriert man uns?
Weil die meisten Menschen Wissenschaft als hohe Autorität ansehen, suggerieren unsere rhetorischen Trickser mit ihrer Berufung auf „die Wissenschaft“ zweierlei:
1/ Wir haben Recht. Wer gegen unsere wissenschaftlich begründete Entscheidung ist, handelt gemeingefährlich, weil sie die zweifellos unfehlbaren Erkenntnisse „der Wissenschaft“ frech sabotieren und damit das Wohl der Menschen verhindern.
2/ suggerieren sie: Es gibt keine Alternative, zu dem, was wir verbieten, verlangen oder verordnen. Wir müssen so handeln. Zählen Sie einmal mit, wie oft unsere Politiker sagen: „Wir müssen!“
Folgen der Suggestion:
a/ Wer dagegen ist, setzt sich damit ins Unwissen und ins Unrecht. Das bedeutet massiven Reputationsverlust! Niemand will sich ins Unrecht setzen und sich als Unwissender positionieren lassen. Scham sticht Widerspruch. Schweigen sticht Widerstand.
b/ In Alternativen zu denken ist dann automatisch unwissenschaftlich. Das kommt daher gar nicht erst in Frage. Alternativlosigkeit sticht Vielfalt der Optionen. Diversity im Denken? Pfui Teufel!
Konsequenz: Alle im jeweiligen Kontext getroffenen Entscheidungen, Maßnahmen, Gesetze und Verordnungen sind „wissenschaftlich begründet“ und daher alleinseligmachend und alternativlos. Das Problem des Hörers: Die Berufung auf „die Wissenschaft“ kann ein rhetorischer Trick sein kann, muß es aber nicht sein. Vorsicht und Skepsis sind das Gebot der Stunde, wenn „die Wissenschaft“ ins Spiel kommt.
Wie kann ich mich seriös auf Wissenschaft berufen?
Wenn Sie sich in einer Rede auf wissenschaftliche Erkenntnisse berufen, berufen Sie sich nicht auf sie, sondern beziehen Sie sich auf sie. Außerdem: Berufen müssen Sie sich in Ihrer Position grundsätzlich und sowieso auf gar nichts. Sie sind für sich jemand, der etwas zu sagen hat.
Formulieren Sie nicht blendend, autoritativ, apodiktisch, alternativlos und so als wären Ihre Hörer entmündigt. Formulieren Sie in der Sache informativ, erwähnen Sie allfälligen wissenschaftlichen Zweifel, halten Sie die linke Gehirnhälfte Ihrer Hörer intellektuell redlich aktiv und ziehen Sie dann Ihre Schlußfolgerungen aus der Erkenntnis, auf die Sie sich bezogen haben.
Am besten, Sie sagen gar nie „die Wissenschaft“. Sie können zB sagen: „Ich vertraue da dem Herrn Prof. Huber. Er hat das erforscht und ist zu folgender Erkenntnis gelangt.“ „Ich habe diese Studie hinterfragt. Ich vertraue ihr, weil …“ „Natürlich gibt es Wissenschafter, die eine andere Auffassung haben. Ich schließe mich aus folgenden Gründen der Lehrmeinung von Herrn Dr. Meier an.“
Und bitte sagen Sie auch dann nicht „alternativlos“, wenn Sie persönlich keine andere Alternative als Ihre Option sehen. Lassen Sie immer die Türe offen für die Wortmeldung jemandes, der etwas fragen oder vorschlagen will.
Ich rate vom Wort „alternativlos“ mittlerweile überhaupt ab. Es ist durch jahrelangen Mißbrauch durch Politiker heftig kontaminiert. Die Halbwertszeit beträgt 200 Jahre. Das ist auch mit dem Satz „Wir schaffen das,“ so.
Um etwas Wissenschaftliches in sauberer, seriöser und redlicher Weise in der Rede zu sagen, schlage ich vor, folgende Blickwinkel immer im Hinterkopf zu haben. Dann gelingt das Schreiben der Rede besser.
1/ Wissenschafter sind demütig.
Ich habe schon einige Wissenschafter näher kennengelernt. Was mich bei ihnen immer tief beeindruckt hat, ist ihre Demut.
Sie hat mich immer gewundert. War ich doch demütig vor ihnen, wußten sie doch so unglaublich viel, daß ich aus dem Staunen nicht herauskam.
Was ist das Geheimnis hinter der wissenschaftlichen Demut?
Der Wissenschafter weiß sehr, sehr viel. Das Überraschende: Je mehr er weiß, desto mehr Fragen stellt er. Und desto mehr erkennt er, daß er so vieles nicht weiß. „Wir wissen das nicht“ oder „Was wir noch nicht wissen“ oder „Was wir uns nicht erklären können“ gehört zu den Standardsätzen eines jeden Wissenschafters.
Wer Denken und Fühlen von Wissenschaftern aus nächster Nähe beobachten will, der lese dieses Buch: Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik. Heisenberg lehrt uns staunen.
2/ Wissenschafter wissen: Irren ist menschlich.
Irren ist auch im Denken, Forschen, Interpretieren von Experimenten möglich. Man muß mit dem Irren sogar rechnen. Errare humanum est.
Jürgen Habermas hat den Begriff „erkenntnisleitendes Interesse“ geprägt. Das ist verkürzt gesagt der vom Wissenschafter gewählte Blickwinkel, unter dem er den Gegenstand seiner Forschung untersucht.
Schon dieser naturgegebenermaßen limitierte Blickwinkel bedingt eine bestimmte Unschärfe, einen blinden Fleck. Fehler, Mängel, Ungenauigkeiten, Irrtümer sind in der Wissenschaft selbstverständlich nie ausgeschlossen.
Und wenn ich als Forscher nur eine bestimmte relevante Frage nicht gestellt habe, kann auch die Antwort auf sie gar nicht auftauchen. Das wird dann ein unfertiges Bild des Gegenstandes der Forschung ergeben müssen.
Ist man sich dessen nicht bewußt – oder ist das jemand schlicht egal, dann kann das ganz fatale, womöglich letale Folgen für Menschen, Gesellschaften, Staaten haben.
Was, wenn wir nicht gefragt haben, was die Änderung der Erdachse oder die (übrigens noch nicht erforschte) Wolkenbildung für das Weltklima bedeuten? Oder die Aktivitäten der Sonne? Was, wenn wir nicht gefragt haben, ob jemand an einem Virus oder lediglich mit ihm im Körper verstorben ist? Was, wenn wir aus noch so gut gemeinten ideologischen Gründen bestimmte Fragen gar nicht mehr stellen dürfen, zum Beispiel in der naturwissenschaftlichen Disziplin der Anthropologie?
Damit Irrtum und Irrweg menschenmöglichst ausgeschlossen werden, falsifizieren und verifizieren seriöse Wissenschafter selbstverständlich alles, was sie entdecken und erkennen oder eben zu erkennen meinen. Und sie stellen ihre Zwischenerkenntnisse vor und geben sie zur Disputatio frei. Das ist seriös und jeder Disziplin eigen.
Darum gibt es die feine Unterscheidung von z.B. Hypothese, These, Theorie. Der Weg zur tatsächlichen und unumstrittenen Erkenntnis, zum tatsächlichen Wissen ist ein langer und steiniger. Die Evolution ist nach 150 Jahren noch immer die Evolutionstheorie.
Ganz nebenbei: Bis tatsächliches Wissen in unseren Sprachgebrauch einfließt, dauert es noch einmal viel, viel länger. Die Sonne geht noch immer auf, und sie geht noch immer unter – sagen wir zumindest noch immer.
3/ Wissenschafter sind Menschen wie Du und ich.
Sie sind mehr oder weniger eitel und neidig, karriere- und geldmotiviert und haben neben ihren intellektuellen Qualitäten das jedem Menschen eigene charakterliche Risiko zu tragen.
Viele Wissenschafter sind existentiell von ihrer Forschungsarbeit abhängig und damit von dem, der sie bezahlt. Manchmal zahlt sie die Regierung. Oder der nächstbeste Multimilliardär um die Ecke.
Neben dem Habermas’schen „erkenntnisleitenden Interesse“ gibt es das Molnár’sche (so viel eigene Eitelkeit will jetzt sein) „erkenntnisleitende Motiv.“
Das Weltenklima zu lenken oder das global präsente Virus zu managen, in den höchsten Gremien der UNO oder im Kleinen in den Think Tank eines österreichischen oder deutschen Bundeskanzlers berufen zu sein, das kann schon motivieren, auch erkenntnisleitend motivieren. Ein Wissenschafter ist ein Mensch. Und was ist ein Mensch? Ein Mensch eben.
Üben auch das mediale und das gesellschaftliche Umfeld einen Einfluß aus? Gewiß doch. Deshalb – Wissenschafter haben’s schwer. Von der Unart des Publikationsdrucks und anderen qualitätsmindernden Zwängen an europäischen Universitäten will ich jetzt gar nichts schreiben.
War es früher besser?
Johann Wolfgang von Goethe war mit den Wissenschaften sehr wohl vertraut. Mit ihrer ganz und gar menschlichen Natur hat er reichlich Erfahrung gemacht. Ich zitiere ihn:
„Ich habe die Erbärmlichkeit der Menschen und wie wenig es ihnen um wahrhaft große Zwecke zu tun ist, nie so kennengelernt, wenn ich mich nicht durch meine naturwissenschaftlichen Bestrebungen an ihnen versucht hätte.
Da aber sah ich, daß den Menschen die Wissenschaft nur etwas ist, insofern sie davon leben, und daß sie sogar den Irrtum vergöttern, wenn sie davon ihre Existenz haben.“
Goethe 1825, zitiert nach Eckermann.
Wenn ich gewisse Spitzenpolitiker, Konzernchefs, NGO-Führer und Medienvertreter sich auf „die Wissenschaft“ berufen höre, wenn ich höre, wie sie daraus ihren alleinseligmachenden Wahrheitsanspruch ableiten und ihre autoritär verordneten Maßnahmen verkünden höre, assistiert von sorgsam auserwählten Wissenschaftern und Faktencheck-Journalisten, dann denke ich immer an den guten alten Goethe.
Und ich muß auch lächeln. Denn früher war das auch nicht besser als heute.
Meine These über „die Wissenschaft“
Meine These zur Diskussion gestellt: „Die Wissenschaft“ gibt es gar nicht! Wer sich andauernd auf „die Wissenschaft“ beruft und sich immer hinter ihr verschanzt, hat etwas zu verbergen oder er betreibt rhetorische Trickserei.
Das mit der Berufung auf „die Wissenschaft“ ist in den meisten Fällen nichts als Blenden, Täuschen und Manipulieren. Funktionieren tut es bei allen, die vergessen haben, was Wissenschaft ist und was ein Wissenschafter ist.
Wenn öffentliche Disputationen und Diskussionen fehlen, dann haben wir es weder mit seriöser Wissenschaft noch mit seriöser Poltik zu tun; auch nicht mit seriösen Medien.
Seriosität erkennt man an der intellektuellen Redlichkeit. Intellektuelle Redlichkeit kennt immer ein Pro und ein Contra und sie gibt sich persönlich bescheiden, in der Sache gewiß und den redlichen Kritikern gegenüber respektvoll.
Das spürt der Hörer an den feinen, präzisen und mitmenschlichen Formulierungen der wissenschaftsbezogenen Rede.
Wenn öffentliche Disputation und Diskussion stattfinden, wenn wir spüren, wie nachdenklich man ist, wie abwägend, wie respektvoll auch die andere Meinung genannt und einbezogen – wenn auch abgelehnt – wird, dann haben wir das Glück, aufgeklärte, tolerante und seriöse Menschen reden zu hören.
Werte Leser: Wenn Sie eine Rede mit wissenschaftlichen Aspekten vorbereiten, dann bitte ich Sie, es auf diese vernunftgeleitete und menschliche Art zu tun. Dienen Sie Ihren Hörern, indem Sie sie als mündige Menschen achten. Damit gewinnen Ihre Hörer Erkenntnis und Sie einen ehrlichen und guttuenden Applaus!
Übrigens: Ich bin Redenschreiber und unterstütze Sie sehr gerne.
PS: Ein Bonmot über Wissenschafter: „Wissenschafter haben herausgefunden, … sie sind dann aber doch wieder hineingegangen.“
Schlagwörter: Wissenschaft, Johann Wolfgang von Goethe, Johann Peter Eckermann, Aufklärung, Werner Heisenberg, Massenpsychologie, Trick, rede, Gruppendynamik, Politiker, Gruppendynamisch, Formulierung, Manipulation.
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