Géza Ákos Molnár 7. März 2023
Ich plaudere heute aus dem Nähkästchen eines Redenschreibers.
Manchmal geschieht es mir, daß ich auf die Arbeit, die ich gerade zu verrichten habe, nicht eingestimmt bin. Dann muß ich mir helfen. Denn ohne Stimmung keine Rede.
Manchmal hilft es mir, eine bestimmte Musik zu hören. In meinem Fall meistens Barock oder Jazz.
Ein anderes mal muß ich etwas Bestimmtes lesen, das mich auf die anstehende Arbeit einstimmt. Dafür sammle ich Geschichten. Gut formulierte, schöne Geschichten. Ich kopiere sie aus Büchern und lege sie in eigenem Ordner ab, damit ich sie finde, wenn ich sie brauche.
Wenn ich zum Beispiel für jemand eine Laudatio schreiben muß, aber innerlich noch nicht eingestimmt bin, den zu lobenden Menschen eindrucksvoll zu schildern, dann lese ich eine Geschichte, in der jemand einen Menschen wunderschön schildert.
So eine Geschichte zeige ich Ihnen heute. Geschrieben hat sie Dževad Karahasan. Ich habe sie in seinem neuen Roman gefunden: „Einübung ins Schweben“.
Wichtigster Ort der Handlung: die belagerte Stadt Sarajevo Anfang der 90-er Jahre.
„Es versteht sich von selbst, dass Peter mich begleitete, er freute sich über die Gelegenheit auszugehen ebenso wie über die Bekanntschaft mit neuen Leuten.
Wir ließen die Veterinärfakultät hinter uns, bogen rechts zum Gesundheitshaus Omer Maslić ab und gingen dann an einigen Wohnhäusern in Čengić vila vorbei zur hölzernen Fußgängerbrücke.
Auf der anderen Seite des Flusses, gleich neben der Brücke, stand meine geliebte Burekbäckerei ‚Bei Zuhdi‘, die ich wegen der besten Spinat-Pita in der Stadt liebte, aber auch wegen ihres Inhabers, den zu kennen und gelegentlich zu treffen sich sicherlich lohnte.
Zuhdi war ein Herr im vollen Wortsinn, einer der wenigen Menschen, von denen ich das ohne den geringsten Zweifel und ohne Angst vor Übertreibung sagen kann.
Nie habe ich einen Mann getroffen, der so ruhig war und so sicher, dass er am richtigen Platz steht.
Ich könnte nichts über Könige sagen, aber ich glaube fest, dass kein König jemals so ruhig und souverän auf seinem Thron gesessen hat, sicher, dass dort sein Platz ist, wie Zuhdi in seinem Kiosk stand, hinter der Theke, an der er Pita verkaufte.
Er konnte unfehlbar erkennen, wem von den Menschen, die hierher zum Essen gekommen waren, er etwas mehr auf den Teller legen musste, als jener bestellt hatte, wem er ein bisschen weniger abnehmen musste, von wem er einen Geldschein entgegennahm, um ihn ihm zurückzugeben, nachdem er sich kurz an der Kasse zu schaffen gemacht und getan hatte, als würde er kassieren.
Zuhdi gab von seinem kleinen Wohlstand ab, soviel er konnte, ganz so, wie ein wahrer Herr gibt – ruhig und natürlich, wie man schwitzt oder atmet.
Er gab so, dass es niemandem auffiel, wie er auch atmete, dass es niemandem auffiel. Und genauso wenig erwartete er Dankbarkeit für das, was er gab, wie er sie dafür erwartete, dass er atmete.“
Quelle: Dževad Karahasan, Einübung ins Schweben, Roman Suhrkamp, 2023, S.74 f.
Nachtrag am 27.03.2023: Herr Karahasan hat mir während unseres Gesprächs vorige Woche in Graz erzählt, daß diese Schilderung keine Fiktion ist. Den Burekbäcker Zuhdi hat er damals in Sarajevo so erlebt, wie hier erzählt. Zuhdi hat den Krieg leider nicht überlebt.
Nachtrag am 20.05.2023: Herr Dževad Karahasan ist am 19. Mai 2023 in Graz verstorben. Ich danke ihm für alles, was er mir gezeigt hat und dank seiner Bücher noch zeigen wird. Er möge in Frieden ruhen.
Schlagwörter: Lesen, vorlesen, Stimmung, Geschichte, Laudatio, DZEVAD KARAHASAN, SARAJEVO, BUCHEMPFEHLUNG, Redenschreiber, rede.
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