Frei reden oder nicht frei reden? – Das ist die Frage!

Géza Ákos Molnár 16. Mai 2022


“Ich bin ein bisserl aus der Übung, was diese Reden betrifft, daher werde ich frei sprechen.“  

So lautete laut Medien der erste Satz einer Rede zum 70. Geburtstag des steirischen Landeshauptmanns Hermann Schützenhöfer im Mai 2022. 

Der Redner: Sebastian Kurz, Altkanzler der Republik. Was für ein Satz! Lassen Sie sich ihn auf der Zunge zergehen: „Ich bin ein bisserl aus der Übung, was diese Reden betrifft, daher werde ich frei sprechen.“

Frei oder frei von der Leber?

Was ich jetzt sage, ist in bezug auf den Kanzler a.D. natürlich spekulativ. Ich habe mit Herrn Kurz kein Wort darüber gewechselt. Ich stelle aber fest:

Wenn der erste Satz einer Rede nur die Befindlichkeit des Redners andeutet und defensiv etwas begründet, was niemand erfragt oder hinterfragt hätte, dann ist das das Zeichen für nur ein einziges Faktum:

Der Redner hat sich überhaupt nicht vorbereitet. Bestenfalls ganz schlecht.

Sebastian Kurz hat jetzt nur seine Unsicherheit überspielt. Er hat kokettiert. Er hat das Augenmerk der Hörer auf sein rhetorisches Können gelegt, nämlich: frei reden zu können.

Ich unterstelle, inhaltlich richtig lautete der Satz so: „Ich hab‘ mich kein bisserl vorbereitet auf diese Rede, daher werde ich jetzt mal frei von der Leber reden.“

Über das freie Reden

Ich nehme diese Geschichte aber zum Anlaß, ein paar wichtige Dinge über das freie Reden mit Ihnen zu besprechen:

Zunächst: Jeder will das können. Kaum jemand kann das. Ich bin auch nur nahe dran. Frei reden! Ich rede mit Stichwortkonzept. Manchmal mit ganzen Sätzen aufgeschrieben, wenn mir ihre wörtliche Formulierung sehr wichtig ist oder wenn ich zitiere. 

Aber auch mein eigener Traum wäre (noch immer), ganz frei reden zu können.

Eine Gabe

Frei reden zu können, ist zweifellos eine Gabe. Wer sie hat, der kann sich freuen. Achtung: Wer sie hat, es aber noch nicht gut kann, möge fleißig üben. 

Schritte zum Ziel: a/ Konzept. b/ Stichwortkonzept. c/ Stichwortkonzept mit Text nach unten (unsichtbar) auf das Rednerpult legen, für den Notfall. d/ Ohne Konzept vor die Hörer treten und frei reden.

Wo ist das Konzept?

Sodann: Ohne Konzept? Ich war Ende 20. Da habe ich sehr oft vor mitunter eins- bis zweitausend Menschen geredet. Ich war nicht der einzige Redner bei diesen Angelobungen von Rekruten. 

Einer der andern Redner ist bis heute mein größtes Vorbild für freies Reden. 20 Minuten lang hat der steirische Landtagspräsident Franz Wegart frei geredet. Und bis zum Ende hat ihm jeder gespannt zugehört, so gut hat er geredet! Solch eine Redezeit hätte sich sonst niemand erlauben können. 

Einmal bin ich an ihn herangetreten (wir kannten uns schon gut): „Herr Präsident? Wie machst Du das? Immer so ganz ohne Konzept zu reden?“ 

Wegart: „Wieso? Ich hab‘ doch ein Konzept.“ Ich: „Wo? Ich hab‘s noch nie gesehen.“ Er: „Hier habe ich es, hier drinnen,“ und zeigt auf seinen Kopf. 

„Zu Hause schreibe ich es. Dann lerne ich es. Dann übe ich es. Und dann rede ich hier. Ohne Konzept rede ich nie.“ 

Ich habe nie vergessen, was dieser Mann gesagt hat.

Wenn die Faulheit mit der Eitelkeit …

Weiters: Die Gabe, frei reden zu können, verleitet sehr viele dieser Begabten dazu, sich schlampig oder gar nicht auf ihre Rede vorzubereiten. Sie verlassen sich auf sich, d.h. auf die Intuition, auf die Inspiration und: auf die Inkompetenz der Hörer, als würden sie nicht bemerken, daß sie in Wirklichkeit faul waren und respektlos sind. 

Denn respektlos ist es, sich für seine Hörer nicht vorzubereiten. 

Ich kenne einen andern Redner, der exzellent frei redet – übrigens auch viele Minuten lang. Ausgezeichnete Modulation! Präzise Artikulation! Druckreif, ohne nur ein einziges Mal zu stottern! Oh, wie ich den beneide! 

Er ist auch Politiker. Deutschland. Bundestag. Er war Fraktionsvorsitzender der damals regierenden CDU. Sein Name: Volker Kauder.

Ich beneide ihn für seine Gabe. Aber mein Respekt gegenüber seiner Rhetorik hat einen Kratzer bekommen. Ich habe mich von seiner rhetorischen Kunst zu lange blenden lassen. Ich bin erst nach Jahren seiner Bewunderung draufgekommen, daß da etwas nicht stimmt mit ihm. 

Die entscheidende Entdeckung habe ich in einer Bundestagssitzung gemacht. Sie war hitzig. Und ich war wirklich gespannt, was er jetzt sagen würde. Er ging nach vorne. Er war wie immer: glanzvoll! Ein echter Kauder!

Aber dann ist mir etwas klar geworden. Was hat er nämlich gesagt? Nichts, das meine ursprüngliche Neugier gestillt hätte. Das Gleiche wie immer hat er gemacht. Er hat das zwar sehr gut gemacht, aber er tut nichts anderes, als die Programmatik und die eh schon bekannten Standpunkte seiner Fraktion wiederzukäuen, noch einmal zu sagen und ein weiteres Mal auf sie hinzuweisen. 

Das V.K. – Syndrom 

Diese schlimme Gewohnheit: zu reden, ohne etwas zu sagen, beobachte ich meistnes bei den freien Rednern – auch in der Wirtschaft, in Institutionen und Unternehmen und bei gesellschaftlichen Veranstaltungen. 

Die frei-von-der-Leber-Redner blenden mit ihrer Redekunst. Sie sind gar nicht blendende Redner. Sie sind redende Blender! 

Sie täuschen sich dabei wohl selbst („Ich kann das eh. Mir fällt immer was ein, wenn ich einmal vorne stehe.“) und verwechseln die Gabe des Redenkönnens mit der Aufgabe, den Hörern auch etwas Essentielles und Spezielles zu bieten! In Rhetorikseminaren warne ich die Begabten vor dem „Volker-Kauder-Syndrom“. So nenne ich diese Plage der Gabe. Das Volker-Kauder-Syndrom. Beobachten Sie einmal die phantastischen Redner: Reden sie wie Franz Wegart oder reden sie wie Volker Kauder? Die Wegarts sind rarer als die Kauders.

Konzeptredner können auch exzellent reden

Schließlich: Mein Wort an die, die wie ich nicht oder nicht ganz frei reden können. Meine Erfahrung: So schön das auch wäre, am wichtigsten ist, daß wir sehr gut vorbereitet sind und den Hörern etwas wirklich Gutes bieten: emotional, essentiell und auf ehrliche Weise. 

Verlassen Sie sich darauf: Die Hörer haben ein Gespür, wie es der Redner meint. Und solange Sie gut vorbereitet sind, solange Sie den Hörern etwas mitgeben oder geben möchten und Sie mit innerem Sendungsbewußtsein vor sie treten – ist alles gut! Weil  Sie etwas zu sagen haben!

Wichtig beim Reden mit Konzept: leserlich geschrieben in guter Schriftgröße, handlich, gut strukturiert. Immer wichig: mit dem Konzept in der Hand die Rede gut zu lesen üben, laut zu üben. 

Und weil auch das passiert: Konzept nicht zu Hause liegen lassen, nehmen Sie es lieber mit! 

Übrigens bin ich Rhetoriktrainer: Wenn Sie möchten, trainiere ich Sie und Ihre Kollegen oder Mitarbeiter sehr gerne reden, reden mit Konzept am Papier oder reden mit Konzept im Gehirn!

PS: Jetzt hat der erste Satz der Rede Sebastian Kurz‘ zu Schützenhöfers Rundem doch Früchte getragen. Er hat uns auf gute Ideen gebracht.

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