Kantige Worte – klare Botschaft. Ein Aspekt der Rhetorik Wladimir W. Putins

Géza Ákos Molnár 5. Juli 2022


Ich lese gerade ein Buch über den Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir W. Putin. 

Ich zitiere hier aus dem Buch Thomas Fasbender, Wladimir W. Putin. Eine politische Biographie, 2022.

Ich tue das, weil es in diesem Abschnitt auf den Seiten 238 bis 241 zwei markante Beispiele der Putin’schen Rhetorik zu entdecken gibt. Sie sind schlicht interessant zu wissen. Darum kommentiere ich sie dann auch nicht weiter (auch um eine politische Debatte hintanzuhalten, um die es mir hier nicht gehen kann).

Der Instinkt hat Vorrang

Interessant für mich ist, daß wir hier ein gutes Beispiel dafür haben, wie wichtig es ist, daß einer, der öffentlich redet (ob bei einer Pressekonferenz oder tatsächlich eine Rede haltend), seinen eigenen Instinkt, sein Gespür, sein Sendungsbewußtsein ja nicht zudecken oder übersteuern läßt durch PR- und andere professionelle Dienstleister und Bedenkenträger. 

Ja, ich  bin Redenschreiber und einer dieser Dienstleister, vor deren unumschränktem Einfluß ich warne.

Limitiere den Einfluß der PR-Profis

Ich lege aber immer und bei jedermann und bei ausnahmslos jedem Redeanlaß allerhöchsten Wert darauf, das emotionale und das inhaltliche Ziel des Redners vom Redner zu erfahren. 

Am Ende meiner Arbeit stelle ich im Gespräch mit meinem Auftraggeber noch einmal sicher, daß dieses Ziel aus seiner Sicht mit meinem Redeskript erreichbar ist und daß die Sprache bis in jedes einzelne Wort hinein dem Sprechgebrauch des Redners entspricht. 

Das ist manchmal anstrengend, ja. Aber gelohnt hat es sich bisher immer! 

Martin Schulzens Scheitern

Mich erinnert der Abschnitt aus Fasbenders Buch über Putin an Feldenkirchens Buch über Martin Schulz.

In diesem Buch hat Schulz sein Scheitern als Kanzlerkandidat der SPD unter anderem damit begründet, daß er seinem Instinkt, seiner Leidenschaft, seinem Sendungsbewußtsein den Nachrang gegeben hat. 

Gegenüber  wem? Gegenüber seinem Stab an PR-Profis und Redenschreibern, die es ganz anders gehalten haben als ich es tue und angehende Redenschreiber lehre. Sie haben dem Auftraggeber Schulz die rhetorischen Ziele vorgegeben (er hat sie freilich gewähren lassen). Sie haben ihr eigenes Süppchen gekocht, das Schulz dann auszulöffeln hatte.

Auf diesem Hintergrund ist mir nachfolgender Abschnitt in der Putin-Biographie aufgefallen. 

Ich gliedere ihn in zwei Teile, da es zwei Geschichten mit je einem Putin-Rede-Text sind. Den Abschluß des ersten Teils bildet eine Videoaufnahme mit Putin aus 1999. 

I.Teil

„Putin ist ein Nobody, als Jelzin ihn im August 1999 nominiert, ein Nobody wie seine Vorgänger Kirijenko und Stepaschin … Doch im Unterschied zu Stepaschin und Kirijenko generiert er binnen weniger Wochen eine Machtbasis – allerdings nicht im Apparat, sondern unter der Bevölkerung.

Das Publikum reagiert anders als die politische Klasse.

Im Angesicht des Krieges ist es bereit zur Selbstvergewisserung in der Konfrontation …

Hinzu kommt der Wunsch nach einem neuen Weg. Die alten sind tote Gleise. Die frühen Reformer, die Demokraten, die Kommunisten, die roten Direktoren und ihre Protagonisten … alles schön und gut. 

Aber abgenutzt, gelutscht.

Just in dem Moment kommt ein kleiner Oberst, ein Funktionär aus dem Nirgendwo mit stahlblauem Blick, der den Menschen sagt: Jetzt wird durchgegriffen.

Das berühmteste Beispiel ist ein Satz, den Putin in der kasachischen Hauptstadt Astana von sich gibt, zwei Tage nach dem unseligen Vorfall namens ‚Rjasaner Zucker‘. Vor der Presse kündigt er an:

‚Wir werden die Terroristen überall verfolgen. Wenn am Flughafen, dann am Flughafen. Das heißt – Sie entschuldigen mich – , wenn wir sie auf der Toilette erwischen, machen wir sie an der Latrine kalt, schlussendlich. Das war’s, die Frage ist erledigt, endgültig.‘ [‚Motschit terroristow w sortire. Starij otwet or Putina‘ https://www.youtube.com/watch?v=-2f-Q4K_J70]

Das Establishment, die Intelligenzija und die Kulturhüter trauen ihren Ohren nicht. Russland ist keine Mittelschichtsgesellschaft mit einem normierten Sprachgebrauch. Eine Lexik aus Tabuwörtern markiert gesellschaftliche Grenzen; selbst die Bolschewiken nach 1917 haben sie nur vorübergehend überbrückt.

Die drei Worte motschit w sortire (in der Latrine kaltmachen) sind wie ein Schlag mit der flachen Hand in die Suppe. Und der Schlag sitzt. Das ist Putins Spielart des Volkstribunen.

So unrecht haben die Verächter nicht, wenn sie behaupten, die Macht dieses Mannes liege im ‚Wir können auch anders‘ des mühsam zivilisierten Tschekisten.

Doch er kommt an – in der Bevölkerung, oder eigentlich muss man sagen: im Volk.

Im Establishment, bei der urbanen Intelligenzija und den Erben der Nomenklatura, bleibt er der misstrauisch beäugte Außenseiter. Nur geben die nicht den Ausschlag in einer Gesellschaft, die zu vier Fünfteln aus Neureichen und Altarmen besteht. 

Im Herbst 1999 erkennt Putin, wie seine Demokratie funktionieren wird. Seine Machtbasis ist das Volk. Und nur das Volk.

Solange er dessen Mehrheit hat, kann ihm keiner: Jelzin konstatiert: ‚Putin wurde angegriffen, weil er sich grob, unbedacht und vulgär geäußert hat. (…) Diese Aussagen, bisweilen alles andere als diplomatisch, machten Putin in Russland in kurzer Zeit enorm populär.‘

Er ist volksnah, ohne eine Spur volkstümlich zu sein. Er flößt Respekt ein. Homöopathische Dosen reichen, manchmal sind es drei Worte, manchmal die Erwähnung der Daumenschrauben.

Da regiert kein ausgeklügeltes PR-Kalkül, da regiert allein sein Instinkt, welchen Eindruck er beim Publikum hinterlassen will. 

Das Video aus Astana – in der Latrine kaltmachen – illustriert die unterbewusste Taktik. Ganze fünf Sekunden reichen. Fünf Sekunden, in denen er alle Contenance verliert. Der mitunter glasige Blick wird stählern, die Sprache rutscht unter die Gürtellinie, und eine nicht mehr nur lauernde Aggressivität zeigt ihre Glut.“

II.Teil

„In dem biographischen Interview ‘Aus erster Hand‘ spricht Putin im Winter 2000 von einer ‚historischen Mission‘, die er im August 1999 verspürt hat. In praktisch aussichtsloser Lage – Jelzins Renommee am Boden, die Zukunft der Familie und das eigene politische Schicksal in den Sternen – nimmt er sich die Befriedung des Nordkaukasus vor:

‚Sei’s drum, da habe ich wenigstens Zeit – zwei, drei, vier Monate –, um diese Banditen zur Hölle zu schicken.‘

Er sagt rasbachat, noch so ein Abscheu transportierendes, nur idiomatisch zu übersetzendes Wort. Die verachteten Terroristen sollen begreifen, was ihnen blüht. Er sieht aber auch strategische Gründe für den Krieg:

‚Ich war überzeugt, wenn wir die Extremisten jetzt nicht aufhalten, droht uns bald ein zweites Jugoslawien auf dem gesamten Territorium der Russischen Föderation, die Jugoslawisierung Russlands.‘

Die Erinnerung an das NATO-Bombardement ist mehr als wach. Wo steht geschrieben, dass der Westen nicht auch für eine Intervention in Tschetschenien moralische Gründe findet?

Objektiv ist die Sorge völlig unbegründet; Russland ist immer noch Nuklearmacht. Doch der Stachel sitzt tief. Der Antrieb, im eigenen Hinterhof aufzuräumen, ehe andere es tun, ist ein entscheidendes Motiv.

Putin agiert wirklich so, als hätte er höchstens vier Monate. Am Feldzug 1994 waren rund 40 000 Soldaten beteiligt – er schickt mindestens das Doppelte. Jelzin nennt es ‚politisches Kamikazetum‘. Putin habe sein gesamtes Kapital in diesen Konflikt geworfen und verbrannt. Seine ‚plötzliche Popularität vor dem Hintergrund des Tschetschenienkriegs war nicht im entferntesten vorhersagbar.‘

Sie ist aber erklärbar. Zehn Tage nach seinem Amtsantritt als Premier reist Putin in die dagestanische Berggemeinde Botlich. 

In einem Zelt, umringt von müden Verwaltungsbeamten, erhebt er sich zu einem der landesüblichen Trinksprüche. Allzu gerne, so setzt er an, tränke er jetzt auf die Gesundheit der Verwundeten und das Glück der Anwesenden. 

‚Doch vor uns liegen viele Probleme und große Aufgaben. [Die Anwesenden] wissen, was der Gegner plant, und wir wissen es auch. (…) Wir haben nicht das Recht, uns nur auch eine Sekunde der Schwäche zu erlauben. Wenn wir es tun, sind die Toten umsonst gestorben. Und darum schlage ich vor, das Glas jetzt nicht zu erheben. Wir werden es austrinken, unbedingt, aber später, nämlich dann, wenn die Aufgaben (…) erledigt sind.‘

Erst Jahre später findet der Mitschnitt mediale Beachtung. Es sind solche Gelegenheiten, mit denen Putin sich breite Sympathie verschafft.

In dieser frühen Phase liegt sein Kapital in der Aura des Un-Politikers, der sich nicht hinter Phrasen versteckt, der auf die Menschen zu- und an die Arbeit geht, Pflichterfüllung ausstrahlt und verlangt.

Am Ende eines desillusionierten Jahrzehnts besetzt er die Nische des Arbeiters, des entschlossenen Machers. 

Das ist kein aufgesetzter PR-Coup. Die Rolle ist ihm auf den Leib geschrieben. Die hohen Zustimmungsraten in dieser frühesten Phase der Putin-Ära sind real; die Kriegspropaganda verstärkte nur den Widerhall.“ 

Liebe Leser, einen Witz will ich Ihnen nachreichen.

Ein paar Seiten später setzt sich Thomas Fasbender mit dem Wahlsystem in Russland auseinander und erzählt einen Witz aus Jelzins Zeiten, der mich ganz zufällig an unsere letzten Bundespräsidentenwahlen in Österreich erinnert hat:

„Nach der Stichwahl kommt ein Mitarbeiter zu ihm [Jelzin, Anm.] und sagt: ‚Es gibt zwei Nachrichten, eine gute und eine schlechte. Welche zuerst?‘ 

Jelzin will zuerst die schlechte hören. ‚Sjuganow hat 51 Prozent.‘ Dann fragt er nach der guten. ‚Sie haben 52.‘“  ebd., S. 265 

Buchempfehlung

Werte Leser, abgesehen von dem rhetorischen Aspekt: Ich empfehle diese Putin-Biographie tatsächlich sehr. Sie ist gut recherchiert und intellektuell redlich verfaßt, d.h. divergierende Erkenntnisse und Interpretationen werden dargestellt, die eigene Schlußfolgerung oder Meinung des Autors ist als solche gekennzeichnet; umfassend; umfangreiche Quellenangaben zu Zitaten und Hinweisen aus Medien etc. 

Ich danke der Manuscriptum Verlagsbuchhandlung Thomas Hoof e.K. für die Erlaubnis, o.a. Zitate hier zu veröffentlichen.

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