Live-Interview eines Bürgermeisters – besser geht’s nicht.

Géza Ákos Molnár 19. September 2024


17. September 2024, 19 Uhr. Ich sitze vor dem Fernseher und schaue mir die Nachrichten des Bundeslandes Niederösterreich an. Schlimme Berichte vom schlimmen Hochwasser. Die Rettung von Menschenleben hat Vorrang vor allem andern bekommen. Ein ganzer Ort muß evakuiert werden: Rust im Tullnerfeld. 

Der ORF ist vor Ort. Interview mit dem Bürgermeister Bernhard Heinl. Gewöhnliche Fragen eines Reporters. Und: außergewöhnliche Antworten des Bürgermeisters Heinl. 

Ich zeige Ihnen zunächst die beiden Interviewpassagen ganz normal mitgeschrieben (transkribiert). 

Gewöhnliche Fragen – außergewöhnliche Antworten

Zunächst: TC ca. 07:01 – 07:27

ORF: Bei mir ist der Bürgermeister von Michelhausen und Rust, Bernhard Heinl. Wie geht’s einem, wenn man so durch die Ortschaft spaziert?

Bürgermeister Heinl: Naja, nicht gut. Aber ich glaub‘, das wird jeder versteh’n. Man traut oft seinen Augen nicht. Man ringt um Worte. Man kämpft mit den Tränen. Manchmal lassen sich die Tränen auch nicht verhindern. Aber es hilft nichts. Wir müssen zuversichtlich nach vorne schau’n. Das machen wir. Mit jedem Kübel Wasser, den wir schöpfen, schöpfen wir auch Mut. 

Sodann: TC ca. 10.08 – 10:32 

ORF: Wie lang wird’s dauern in Rust, bis wieder Rust so beinand‘  ist wie vor einer Woche?

Bürgermeister Heinl: Eine seriöse Abschätzung ist aus meiner Sicht zum heutigen Tag nicht machbar. Für uns gilt einfach das Motto: aufbäumen, aufräumen und nach vorne schauen! Wer, wenn nicht wir, hier in der Heimatgemeinde von Leopold Figl, wird mit Hoffnung, Zuversicht und Glauben nach vorne blicken? Diesen Weg werden wir gehen. 

Zugegeben: Ich höre automatisch mit rhetorisch gespitzten Ohren zu. Daher ist mir sofort aufgefallen, daß diese Antworten des Herrn Bürgermeisters sehr, sehr fein waren. 

Spüren, instinktiv fühlen konnte das wahrscheinlich jeder Zuschauer. Die Antworten waren nämlich ungemein menschlich, realitätsnah, berührend, ermutigend, zukunftsorientiert. 

Analyse des Interviews

Will ich nun dahinterkommen, was der Redner bzw. der Interviewpartner rhetorisch im Detail genau gemacht hat, damit es rundherum so ausgezeichnet gelingt, mache ich die Struktur des Gesagten sichtbar. 

Wie mache ich das? Ich transkribiere die Rede und gehe der Einteilung des Gesagten auf die Spur. Schauen Sie sich jetzt bitte dieselben Passagen unter meiner Strukturlupe an. Was entdecken Sie dabei?

Die Struktur sichtbar gemacht

Zunächst: TC ca. 07:01 – 07:27

ORF: Bei mir ist der Bürgermeister von Michelhausen und Rust, Bernhard Heinl. Wie geht’s einem, wenn man so durch die Ortschaft spaziert?

Bürgermeister Heinl:

Naja, nicht gut. Aber ich glaub‘, das wird jeder versteh’n. 

  • Man traut oft seinen Augen nicht.
  • Man ringt um Worte.
  • Man kämpft mit den Tränen. 

Manchmal lassen sich die Tränen auch nicht verhindern. Aber es hilft nichts. 

Wir müssen zuversichtlich nach vorne schau’n. Das machen wir. 

Mit jedem Kübel Wasser, den wir schöpfen, schöpfen wir auch Mut. 

Sodann: TC ca. 10.08 – 10:32 

ORF: Wie lang wird’s dauern in Rust, bis wieder Rust so beinand‘ ist wie vor einer Woche?

Bürgermeister Heinl:

Eine seriöse Abschätzung ist aus meiner Sicht zum heutigen Tag nicht machbar. 

Für uns gilt einfach das Motto:

  • aufbäumen,
  • aufräumen und
  • nach vorne schauen!

Wer, wenn nicht wir, hier in der Heimatgemeinde von Leopold Figl, wird mit 

  • Hoffnung,
  • Zuversicht und
  • Glauben 

nach vorne blicken? 

Diesen Weg werden wir gehen. 

Mein Feedback:

# Sprachlich einwandfrei, schlicht, einfach, schön formuliert.

# Jeweils eine knappe 1-Satz-Einleitung, die die Frage unmittelbar übernimmt und zur zentralen Botschaft überleitet.

# Lauter kurze und sehr kurze Sätze. 

# Jeweils prägnanter Schlußsatz – und vor allem auch Schluß & Punkt gemacht.

# Alles sachlich-nüchtern und zugleich menschlich-empathisch formuliert.

# Stimme und Modulation: nie weinerlich und zusätzlich dramatisierend, nie überemotional, nie auf die Tränendrüsen drückend, sondern immer gefühlvoll ernsthaft, unaufgeregt, fest, tapfer. Der Mann strahlt gute natürliche Autorität aus – das Beste in der Not.   

# Stilmittel der klassischen Dreier-Gliederung eingesetzt (oben sichtbar gemacht, zB Hoffnung, Zuversicht, Glauben); sie ist einprägsam und hilft , die Botschaft leicht aufzunehmen.

# In den letzten Sätzen beider Passagen: Blick aller in die Zukunft gelenkt und ihn mit Zuversicht geschärft.

# Wunderschön und zitatreif: Mit jedem Kübel Wasser, den wir schöpfen, schöpfen wir auch Mut. 

# Man spürt: Dieser Bürgermeister führt seine Gemeinde an. In diesem Interview sehen wir ein Musterbeispiel von gewinnender Führungsrhetorik. 

# Bürgermeister Heinl tritt ausschließlich als „primus inter pares“, als Erster unter Gleichen (= einer der Bürger und deren Meister) auf, selbstbewußt und menschlich bescheiden zugleich. 

# Er sagt nur ein Mal „ich“ (ich glaub‘), sonst immer „wir“ „uns“ oder „man“. Er steht vorn, er geht voran, ohne sich jemals in den Vordergrund zu rücken.

# Seine Appelle sind indirekt; sie sind nicht imperativisch (Befehlsform), sondern indikativisch (Tätigkeitsform) formuliert – siehe den ersten Schlußsatz: Wir müssen zuversichtlich nach vorne schau’n. Das machen wir. Und siehe den zweiten Schlußsatz: Diesen Weg werden wir gehen. 

# So geht ein Anführer voran. So festigt er den Gemeinschaftssinn seiner Gemeinde. So tröstet und ermutigt er in der Naturkatastrophe. So sichert er das Vertrauen der Seinigen in ihn und die Gemeinschaft der Bürger. So setzt er die Energie für die Arbeit aller für die neue Zukunft frei. So motiviert und mobilisiert der Herr Bürgermeister seine Bürger. Und, werte Leser, bedenken Sie: Das war ein Live-Interview am Abend nach langen Tagen und durchwachten Nächten während einer Naturkatastrophe. Eine ungemein starke Leistung, die Herr Heinl hier geliefert hat.

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Quelle des o.a. Interviews:

https://on.orf.at/video/14243360/niederoesterreich-heute-vom-17092024

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