Um 22 Uhr noch einen Vortrag ansetzen?

Géza Ákos Molnár 23. Mai 2023


Wenn jemand meinen Rat suchte, ob er am Ende einer Tagung am Abend um 22 Uhr noch einen einstündigen wichtigen Vortrag eines Rechtsanwaltes ansetzen soll:

Bis vor ein paar Tagen hätte ich gesagt:

Bitte auf gar keinen Fall!

Ich bin diesbezüglich ein gebranntes Kind. Vor Jahren war ich Opfer (Hörer) eines um 22 Uhr begonnenen Vortrags. Damals ging es um ein historisches Thema. 

Das Ganze endete zwar lustig, aber auch nur, weil es eine firmeninterne Veranstaltung war und der Chef klug und sehr originell reagierte, nachdem ein junger Mitarbeiter aus der hintersten Reihe dem Redner zugerufen hatte:

Reden Sie ruhig weiter! Es hört Ihnen ohnehin niemand mehr zu! 

Bis vor ein paar Tagen hätte ich also kategorisch ausgeschlossen, es sei eine Option, um 22 Uhr noch einen Vortrag anzusetzen.

Vorige Woche ist mir aber etwas Entscheidendes passiert. 

Ich war neugierig auf einen Vortrag des Schweizer Rechtsanwalts Philipp Kruse. Sein Thema war der jetzt in Verhandlung befindliche WHO-Pandemievertrag. 

Kann ja ganz gemütlich sein, sich so etwas anzuhören am Samstag vormittag, mit einer Tasse Kaffee am Schreibtisch, vor dem Bildschirm sitzend. 

Ich rufe also das Video auf. Ich klicke auf Start. Was sagt da der Anwalt gleich am Anfang? 

Ich danke Ihnen, daß Sie immer noch da sind. Es ist ja jetzt immerhin 22:14 am Freitag, den 13. Januar 2023. (Video TC 02:58) 

Ich war sofort elektrisiert – wegen meines Urteils: Nein, das muß nicht sein, das darf nicht sein, das kann nicht sein. Auch in Zürich nicht. 

Die Aufnahme zeigt hin und wieder den ganzen Saal. Ich sehe, er ist voll. Ich schätze circa 200 mögliche Opfer des nächtlichen rhetorischen Überfalls. Wie kann man diesen Menschen so etwas nur zumuten?

Schweizer sind auch nur Menschen. 

Und dann spule ich sofort nach vorn, zum Ende des Vortrags. 

Sehe ich einen erschöpften Philipp Kruse? Höre ich einen schütteren Applaus eines kleinen Restpublikums? Aus Höflichkeit gegeben? – Oder aus Erleichterung gespendet? Endlich fertig!? 

Schauen Sie nach! Unten sehen Sie das Video eingebettet. 

Wenn Sie, ich schlage vor, bei TC 49:52 einsteigen und sich die letzten Minuten der Rede Kruses ansehen. Was sehen Sie da? 

Der Saal ist noch immer voll. Die Leute unterbrechen den Vortrag mit Zwischenapplaus, immer wieder einmal. Der Schlußapplaus ist fulminant

Dabei ist es schon ein paar Minuten nach 23 Uhr, an jenem Freitag, den 13. Januar 2023.

Die Ausnahme von der Regel

Lasse  nie einen Vortrag um 22 Uhr halten!? Ich revidiere meinen unbedingten Imperativ. Ich wandle ihn nun lieber in einen bedingten um. Ab sofort sage ich: 

Bitte um Vorsicht! Normalerweise ist das um 22 Uhr zum Scheitern verurteilt. Aber ich kenne da eine Ausnahme:

  • Wenn das Publikum wirklich interessiert und neugierig ist, 
  • wenn der Redner wirklich engagiert und glaubwürdig ist, 
  • wenn der Vortragende rhetorisch wirklich gut (drauf) ist – 
  • dann wage es mit Gottes Hilfe!
  • Und der Redner soll sich voll ins Zeug legen!

Die positive Ausnahme sehen Sie im Video unten. Dieser Rechtsanwalt hat (bestens vorbereitet!) wirklich substantiell vorgetragen, ausgeführt, erklärt, überzeugt, argumentiert, kritisiert, von seinen Begegnungen mit Politikern erzählt und appelliert. Er hat sich, wie wir zu sagen pflegen, voll ins Zeug gelegt. 

Philipp Kruse erfüllt meine 3 wichtigsten Qualitätskriterien eines guten Fachvortages:

  • emotional,
  • essentiell und
  • ehrlich / ehrenhaft. 

So hat er die Leute munter gehalten, so hat er sie mitgenommen auf eine interessant gestaltete Reise durch – ja, wirklich! – durch Paragraphen.

So hat es  der Jurist seinen Leuten leichter gemacht, ihm zu so später Stund‘ gerne zuzuhören. 

Meinen Respekt hat Herr Philipp Kruse!

PS: Natürlich zu bedenken: Der Vortrag stammt aus Januar 2023. Und vor allem: Es ist ein Vortrag eines Schweizers für Schweizer. Wegen der WHO hat er allerdings weltweite Relevanz. Und für Germanen hat er deutsch gesprochen. 

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