Viktor Orbáns Zürcher Rede zur Lage und Zukunft der EU

Géza Ákos Molnár 6. Dezember 2023


Die Hunnen in der Schweiz. Wilhelm Tell im ungarischen Kartenspiel. Der Junge, dem die Predigt des Pastors zu lang gedauert hat. Warum die Ungarn nicht primitiv sind. Warum Orbán ein wenig Schweizer Empathie bedarf. 

Eine Festrede ist eine feste Rede

Es ist eine Festrede, neudeutsch eine Keynote-Speech, die Viktor Orbán am 22. November 2023 in Zürich gehalten hat: eine große Rede, eine lange Rede, eine anspruchsvolle Rede.

  • Groß im Sinne von staatsmännisch.
  • Lang im Sinne der Zeit – an die 45 Minuten.
  • Anspruchsvoll im Sinne von: Unterhaltungsrhetorik war das nicht. Für die, die konzentriert mitgedacht haben, aber allemal interessant, lehrreich-informativ und spannend. 

Die kleinen Leckerlis für die rechte Gehirnhälfte, für den „Schurli“ in uns, hat Orbán den Festgästen freilich auch gereicht; Orbán, ein großer Rhetor, weiß, wir brauchen das, damit sich unsere linke Gehirnhälfte gleich viel leichter damit tut, die feste Nahrung der essentiellen Rede gut aufzunehmen. 

Im ersten Absatz oben haben Sie schon ein paar solcher Häppchen für den „Schurli“ gelesen.

Anlaß und Audienz

Das Schweizer konservative Magazin „Die Weltwoche“ feierte sein 90-jähriges Bestehen. Sein Chefredakteur Roger Köppel hatte den ungarischen Regierungschef um die Festrede gebeten. Mit ein paar Ministern seiner Regierung im Gefolge folgte er dieser Einladung gerne. 

Viktor Orbán durfte mit einem niveauvollen Publikum rechnen. Mit Recht konnte er grundlegende geschichtliche Vorkenntnisse und das Verstehen von bestimmten immer wieder verwendeten termini voraussetzen (liberal-progressiv versus christlich-demokratisch, um nur ein Beispiel zu nennen). 

Eine deliberative Rede

Diese Rede gehört in die Kategorie der deliberativen Rede. Das macht sie auch zu einer besonderen, einer seltenen. Wann sonst hören wir in Europa einen Regierungschef eine politische Rede halten, 

  • die den Dingen grundsätzlich auf die Spur geht,
  • die die Entwicklungen aus der Vogelperspektive betrachtet,
  • die die großen Weichenstellungen, vor denen wir stehen, interpretiert,
  • die die Auseinandersetzungen auf der Metaebene beschreibt,
  • die die Kette von Ursachen und Wirkungen nachzeichnet und
  • die die Beurteilungen, die Entscheidungen und die Vorhaben des Redners nicht tagespolitisch-taktisch, sondern grundsätzlich-strategisch begründet und erklärt?  

Orbán redet hier über die Lage der EU in der Welt, über die innere Führung der EU und über die beiden Wege in die Zukunft, die der EU heute offenstehen. Wobei, so Orbán, Ungarn für den andern Weg eintritt als für den, für den derzeit (noch?) die Mehrheit der EU-Mitglieder heute optiert.

Was den deliberativen Stil auch ausmacht

Den deliberativen Stil hat Orbán bis zur letzten Minute durchgehalten, obwohl er sehr heiße und wild umstrittene Themen benannt und klare Thesen postuliert hat: 

Orbán hat es vermieden, Namen seiner politischen Antagonisten zu nennen – es ging ihm heute, beim Festvortrag, nicht um den tagespolitischen oder gar einen persönlichen Streit. 

Was zum deliberativen Stil außerdem gehört: Orbán wirft da und dort auch eine Frage auf, von der er dann sagt, daß er sie offen läßt. Aufwerfen tut er sie, weil sie sich im Kontext aufgedrängt hat – nicht nur ihm, sondern sicher auch vielen Hörern der Rede. Das ist eine kluge rhetorische Entscheidung, zumal angesichts einer aufgeklärten, klugen Audienz, die Orbán bei diesem Fest in Zürich durchaus vermuten durfte.

Summa summarum – Feedback

  • Verbindlich in der Sache, 
  • sendungsbewußt in seiner Mission, 
  • positionsbewußt in der Auseinandersetzung der beiden von ihm angeführten politischen Denkschulen – 

so hat Orbán die Rede gehalten. Die Rede ist summa summarum

  • inhaltlich brisant, 
  • argumentativ logisch, 
  • existentiell entscheidend für die Zukunft Europas, somit für die seiner Hörer.

Eine Detailkritik

Nur eines hätte ich Orbán vorgeschlagen, wäre ich einer seiner Redenschreiber. Aber ich kenne Orbán schon gut (rhetorisch gesehen freilich nur), wahrscheinlich will er es bewußt so halten:

Orbán macht so gut wie nie Überschriften. Die Struktur der Rede muß man als Hörer erst entdecken. Das macht das Zuhören schwerer als nötig. Vor allem der rationale Typ will gern eine Gliederung der Rede hören oder leicht heraushören können.

Ihm hilft bei langen Reden (heutzutage schon ab 10 oder ab 15 Minuten) am meisten schon am Anfang ein knappes Inhaltsverzeichnis („Meine Rede hier hat vier Teile. 1. … 2. … 3. … 4. … Heute beginne ich gleich mit dem ersten Teil.“) 

Und wenn der Redner das nicht tun will, dann schlage ich vor, zumindest doch im Vollzug der Rede die Strukturen als Orientierungshilfe erkennbar zu machen; am besten mittels guter (nicht unbedingt nummerierter) Überschriften zwischendurch oder mittels expliziter Thesen oder Fragestellungen, die wie Überschriften am Übergang zum neuen Kapitel stehen.

Überschriften nach Orbáns Art

Bei Orbán höre ich das fast nie, bei fast keiner Rede. Ich habe entdeckt, daß sein neues Kapitel in der Rede immer dann anfängt, wenn er „Meine Damen und Herren“ oder im Parlament „Verehrte Abgeordnete“ sagt. Ich muß immer schmunzeln, wenn er das sagt. Ich weiß dann sofort: Jetzt kommt das nächste Kapitel. 

Ich habe die Struktur der Zürcher Rede Orbáns dann im Transkript gesucht, gefunden und für uns sichtbar gemacht, indem ich Überschriften formuliert habe. 

Die Überschriften im Transkript stammen also nicht von Orbán, sondern von mir. Bedenken Sie das bitte, wenn Sie die Rede in meiner deutschen Übersetzung lesen. 

Dokumente und Video für Sie

1/ Allein die Struktur der Rede finden Sie hier im PDF-File

2/ Die ganze Rede, ihr Transkript finden Sie hier im PDF-File

3/ Und hier sehen und hören Sie die Rede Orbáns mit deutscher Simultanübersetzung:

PS: Haben Sie bald eine Keynote-Speech oder einen Vortrag zu halten? Suchen Sie Unterstützung beim Vorbereiten Ihrer Rede? Ich stehen Ihnen sehr gerne zur Verfügung. Kontaktieren Sie mich gleich. Sie sind herzlich willkommen!

 

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