Géza Ákos Molnár 8. Jänner 2020
Nicht nur den Beruf Politiker haben sie gemeinsam. Sie haben ein fabelhaftes Gedächtnis und rezitieren für ihr Leben gerne. Es entspannt sie, sagen sie.
Doch der Reihe nach:
In seinem faszinierenden Buch über journalistisches Schreiben – Draft No. 4. On the Writing Process– erzählt John McPhee, was ihm Richard Burton in einem Interview erzählt hat:
An einem Theater in London spielt Burton den Hamlet. Eines Abends platzt der Theaterdirektor in seine Garderobe:
„Gib heute Dein Allerbestes. Der Alte kommt!
Burton: Der Alte? Wen meinst Du?
Der Direktor, sehr angespannt: Was ich noch sagen will, der Alte hat folgende Gewohnheit: Wenn er kommt, setzt er sich immer in die erste Reihe. Und gleich nach dem 1. Akt geht er wieder, immer! Also gib Dein Bestes!
Burton: Der Alte?
Der Direktor: Winston Churchill höchstpersönlich.“
Burton steht auf der Bühne. Er gibt sein Bestes. Jedoch, wenn er als Hamlet am Wort ist, rezitiert Churchill denselben Hamlettext. Wort für Wort. Fehlerlos und ohn‘ Unterlaß. Einmal synchron, einmal etwas schneller, einmal etwas langsamer.
Das stört Burton natürlich enorm. Und er versucht, ihn loszuwerden, indem er seinerseits das Redetempo immer wieder wechselt. Vergeblich allerdings. Churchill kennt und liebt den Hamlet in- und auswendig.
Außerdem, entgegen seiner Gewohnheit: Ausgerechnet an diesem Abend bleibt Churchill bis zum Ende der Vorstellung in seiner ersten Reihe sitzen. Rezitierend wohlgemerkt.
Dieser Abend sollte für Richard Burton nicht folgenlos bleiben.
Was er da Jahre später erleben wird, lesen Sie in der englischen Originalversion McPhee – Richard Burton dieser großartigen Geschichte.
Und ganz nebenbei beobachten Sie die Erzählkunst Burtons, wie er die Spannung steigert und wie er den Dialog wiedergibt. Es ist ein Musterbeispiel für das Erzählen in einer Rede.
Ein anderes Buch möchte ich jedem Politiker und Politikberater der rhetorischen Zunft sehr empfehlen:
Markus Feldenkirchen, Die Schulzstory. Ein Jahr zwischen Höhenflug und Absturz.
Feldenkirchen ist Journalist und durfte den damaligen SPD-Chef und Kanzlerkandidaten Martin Schulz ein Jahr lang begleiten und beobachten.
In seinem Buch lesen wir u.a. immer wieder von Momenten, da Martin Schulz – etwa im Auto sitzend – Gedichte aufsagt, fehlerlos und ohn‘ Unterlaß, viele Gedichte mit vielen Strophen aus der Feder vieler Dichter.
Schulz kann sie alle auswendig. Und er liebt sie. Und er rezitiert sie. Laut. Auch coram publico. Meistens, um Druck abzubauen, den Stress abklingen zu lassen, seinen Augen einen Blick auf ganz etwas Anderes zu schenken.
Ein paar Zeilen aus dem Buch, S. 136 (Kontext: bei Dreharbeiten für einen Wahlkampf-Film auf der Museumsinsel in Berlin)
„Nach jedem Cut rückt die Schönheitscrew an, pinselt immer wieder neues Puder in sein Gesicht, zupft an der Krawatte und rollt mit dem Flusenroller seinen Anzug ab.
Schulz überbrückt die Langeweile wie gewohnt, indem er Gedichte aufsagt – am liebsten von Eugen Roth oder Friedrich Schiller – oder französische Chansons von Edith Piaf anstimmt.
Sein kürzestes Gedicht ist ein selbst gedichtetes. Es heißt ‚Bauerntod‘ und besteht nur aus einem Wort: ‚Sense.‘
Manchmal singt er so laut, dass ihn sogar die Menschen auf den Decks der vorbeifahrenden Touristendampfer hören können. Sie winken, und Schulz winkt zurück.
Einmal kommt es zu einer Verzögerung im Drehplan, weil Schulz unbedingt noch die 20-strophige Ballade ‚Die Bürgschaft‘ von Friedrich Schiller zu Ende aufsagen will, die er vor 45 Jahren in der Schule auswendig lernen musste. Dies gelingt ohne jeglichen Hänger.
‚Ich bin ja, wie Sie wissen, nicht ganz dicht‘, sagt er zu den Crewmitgliedern, als er fertig ist. ‚Ich kann nichts vergessen.‘
Gedichte zu zitieren helfe ihm. Druck abzubauen.
Der Dritte im Bunde der Literaten: Boris Johnson, der Nachnach…folger von Winston Churchill im Amte des Ministerpräsidenten des Königreiches vulgo Brexitannien.
Wer ihn nur aus den Medien, noch dazu nur aus unsern Medien in Deutschland und in Österreich (ver-)kennt, rechnete damit nicht.
Mitten in einer Talkshow erzählt er in lustigen Bildern über hungrige Krokodile, was er tut, wenn er gerade nichts zu tun hat.
Er rezitiert, was er je auswendig gelernt und verinnerlicht hat.
Die Moderatorin reizt das. Und sie reizt ihn. Sie bringt ihn dazu, doch etwas zu rezitieren, hier und jetzt in der vollen Halle und vor einem Millionenpublikum.
Mister Johnson läßt sich nicht zwei Mal herausfordern. Und er ergreift das Wort und er tut’s. Er tut’s auf Griechisch. Auf Altgriechisch. In Oxford-Altgriechisch.
Musik in meinen Ohren, weil ich auch Altgriechisch gelernt hatte und noch nie britisches Altgriechisch vernommen habe. Es ist ein einziger Genuß.
Ganz nebenbei: es ist auch sehr lustig, wie die automatisierte youtube-transcription auf Altgriechisch reagiert.
So war es auch für das Publikum. Sie hören es im Video jubeln und johlen vor lauter Begeisterung, angesteckt vom begeisterten Boris, der – wie man sieht – seinen Ilias aus Homers Feder nicht nur kann, sondern auch versteht und mimisch und in Gestik und Melodik so aufführt, daß Winston Churchill Lust bekäme, neben Shakespeare noch den alten Homer auswendigzulernen.
Mein Tipp für Ihre Rede:
Falls Sie etwas Schönes auswendig können, weil sie es lieben, wirklich lieben, und wenn es paßt, warum das nicht vortragen?
Macht man das gut und mit Leidenschaft, ist das für Ihre Hörer eine sensationelle Überraschung mit dem berühmten „Wow-Effekt“, für den Sie einen riesigen Applaus ernten werden.
Schalten Sie das ewigfade PowerPoint aus und trauen Sie sich was Spannendes!
Aber jetzt genießen Sie den Boris Johnson:
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