Erdoğan: 3 exzellente rhetorische Entscheidungen 

Géza Ákos Molnár 10. September 2024


Erdoğan nimmt eindeutig Stellung. Anlaß: die Eröffnung der Olympischen Sommerspiele 2024 mit der viel diskutierten Szene des Heiligen Abendmahls, die dem berühmten Gemälde von Leonardo da Vinci nachempfunden war. 

Sehen Sie sich bitte zuerst das Video an, das jemand in die sozialen Medien gestellt hat. Quellen kann ich Ihnen leider nicht nennen. Auch die Qualität der Übersetzung konnte ich nicht prüfen. Ich bitte Sie um Ihre Nachsicht. 

Ich bin neugierig, ob Ihnen dieselben Dinge auffallen wie mir. Kleiner Hinweis: Es geht mir heute um die Frage, welche Bilder von ihm selbst, Erdoğan, in den Herzen seiner Hörer entstehen sollten. Wie wollte der Präsident wahrgenommen, erlebt und erfahren werden?

Die 3 Entscheidungen und ihr Nutzen:

Erdoğan hat drei Entscheidungen getroffen. Er hat sich aus gleich drei Blickwinkeln präsentiert. Emotional und ehrgeizig. Und es war ihm sehr ernst dabei.

1. Erdoğan schildert, wie er sich zu Hause mit seiner kleinen 13-jährigen Enkeltochter über seine Arbeit unterhält. Er macht das rheotorisch ausgezeichnet. Er zitiert die entscheidende Stelle des Dialogs. Sogar Instagramm kommt ins Spiel.

2 Fliegen mit 1 Schlag

a/ Sein Volk erlebt den gestrengen Landesvater jetzt als liebenden Großvater.   
b/ Und die Menschen erfahren, daß er den Rat seines Enkelkindes schätzt. 

Kindermund tut Wahrheit kund. Wer weise ist, hört auch das Kind. Erdoğan – was für ein Präsident. Macron in Frankreich besuchen? Das geht jetzt natürlich gar nicht! Da hat die Kleine schlicht recht. 

2. Erdoğan, der konsequente und konsistente Mohammedaner, stellt sich an die Seite der Christen! Die genannte Szene bei der Eröffnung der Olympischen Spiele ist eine Verunglimpfung „des Heiligen.“ 

Was auch einer anderen Religion „heilig“ ist, darf nicht angetastet werden. Was Erdoğan nicht will, daß man es Mohammed antut, das will er auch nicht, daß man es Christus antut. 

Wirkung auf die Türken: Welch ein großer Mann in heiligem Auftrag. Er stellt sich an die Seite sogar der nun in Paris angegriffenen Christen. Um wieviel sicherer ist es, daß er den Propheten verteidigen und den Islam beschützen würde.

Anm.: Ich erinnere: Ich schildere jetzt nur aus rhetorischem Blickwinkel die Strategie der Rede. Ich kommentiere sie nicht politisch; sonst müßte ich die Unterdrückung der Christen in der Türkei mitkommentieren.

3. Erdoğan ist entschlossen: Beim nächsten und noch so geringen Anlaß wird er sofort zum Telefon greifen, den Papst direkt anrufen und die entsprechenden Maßnahmen persönlich mit ihm besprechen. 

Erdoğan ist jetzt der Politiker, das Staatsoberhaupt der Türkei, mit globalem Einfluß ausgestattet und mit dem Chef des Vatikanstaates, der auch über globalen Einfluß verfügt, auf Augenhöhe.  

Der Beschützer des globalen Islam, Erdoğan, und der Führer des globalen Christentums, Papst Franziskus I.:  beides sachlich total inkorrekt, aber wen kümmert’s, wenn es dem Redner jetzt nur um die Wirkung geht? 

Hauptsache, dieses Bild entsteht nun im Kopfkino der Tausenden, die ihn gerade reden hören. 

Raffinierte Rhetorik, freilich. Handwerklich beneidenswert meisterhaft. Ich fasse zusammen: Erdoğan hat entschieden, sich seinem Volk innerhalb von nur fünf Minuten 

  • als liebender, weiser Großvater seiner kleinen Enkelin, dann 
  • als entschlossener religiöser Verteidiger alles Heiligen und 
  • als mit dem Papst auf Augenhöhe amtierender „global leader“

zu zeigen. Das sind die 3 Stränge, die er da miteinander verflochten hat. So gut wie jeder Hörer dieser Worte wird wohl zumindest von einem dieser drei Stränge emotional berührt worden sein: der familiär empfindsame, der religiös gläubige und der politische, patriotische Mensch.

Eine entscheidende Frage beim Redevorbereiten

Warum analysiere ich das so ausführlich? Ich will, daß Sie sich dessen bewußt sind, wie unglaublich viele Möglichkeiten wir zur Auswahl haben, um bei möglichst allen unserer Hörer Wirkung zu erzielen und nicht nur bei einem mehr oder weniger kleinen Segment von ihnen.  

Mein Tipp: In Rhetorikseminaren lehre ich die wichtigen Fragen, die man beantworten muß, wenn man seine Rede vorbereitet. Eine dieser Fragen lautet:

„Wie will ich bei dieser Rede jetzt wahrgenommen werden?“ 

Stellen Sie sich diese Frage und treffen Sie eine Entscheidung!

Der alte Profi Erdoğan hatte diese Frage wohl schon verinnerlicht. Er hat sie auch für diese Rede gestellt und gediegen dreifältig beantwortet. Respekt!

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